Читать книгу Auf der Suche nach dem verlorenen Schnee. Erzählungen und Essays онлайн

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Ich traue dem Alphabet einigermassen, aber wenn es sich eines Tages aus den Wörterbüchern davonmachen wür­de? – Dann hätte ich als Trost das nach der Schöpfung geordnete Wörterbuch!

Meine alten Bücher habe ich auf dem Büchergestell nach ihren Biografien geordnet. Nicht umsonst stehen mein Carisch und mein Conradi nebeneinander. Dass beides Wörterbücher sind und die Namen ihrer Autoren beide mit «C» beginnen, ist purer Zufall.

Mein Conradi stammt aus der Bibliothek von Gugli­elm Gadola, im Volk bekannt als Autor von «Paul Luziet», dem rätischen Eulenspiegel, auch bekannt als Redaktor des Volkskalenders «Il Glogn» («Der Glenner»), erschienen von 1927 bis 1953. In diesem Kalender hat Gadola unsere Kultur, Literatur und Geschichte archiviert. Die Reihe der Kalender «Il Glogn» ist wie eine Kristallkluft, und wenn man sie öffnet, ist Guglielm Gadola allgegenwärtig. Er steht von den Toten auf, wenn man seine Kalender öffnet und mit ihnen öffnet sich eine Welt.

Einmal habe ich in der Zeitung darüber geschrieben, wie ich den Carisch in einem Container gefunden hatte und wem er gehörte. Es ist dann einige Zeit vergangen und eines Tages hat sich eine 85-jährige Frau gemeldet. Sie begann von Martin Schwarz aus Madernal zu erzählen, der ihr Vorfahre gewesen sei. Ich dachte mir, dass sie das Buch zurückhaben wolle, aber sie redete nur vom Martin, der ein richtiges Original gewesen sei und irgendwo in einem «Glogn» sei über den Martin Schwarz geschrieben worden, aber einiges sei erfunden. Und so, nachdem ich die Verzeichnisse der «Glogns» durchforstet hatte, ist der Martin von den Toten auferstanden.3 Ich weiss jetzt, dass er schwarze Haare und blaue Augen hatte, weiss, dass er an Werktagen einen Kittel aus Drillich und sonntags ei­nen Tschopen aus Samt anhatte. Er hatte zwei Kühe und stellte Schlitten her. Ich weiss, dass er am Sonntag seinen reservierten Platz neben dem Weihwasserbecken in der Pfarrkirche Sogn Gions hatte, und weiss, wie er sich einmal krankärgerte, sodass er gelb wurde und starb. Diese kurze Biografie von Martin Schwarz ist mit einer Hexengeschichte verbunden, sodass es keine Hexerei ist zu erkennen, was davon erfunden ist. Jedes Mal wenn ich das zerfledderte Wörterbuch öffne, steht der Martin vor mir, lebendig und putzmunter. Wegen der Verbindung zu Gadola sind also diese beiden Wörterbücher bei mir nebeneinander auf­gereiht. Dies ist mein privates Archivierungssystem. Ein Archiv hat für mich mit Reihen zu tun. Etwas nach einem bestimmten System in Reih und Glied stellen, mit dem Ziel, dass man es so leicht wie möglich wiederfindet. Reihen bedeuten Ordnung, Struktur, Kontrolle, Magie.

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