Читать книгу Die Stimme des Atems. Wörterbuch einer Kindheit онлайн

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Meine Lieblingslektüre als Analphabet war eine Prachtausgabe in dunkelrotem Pressleinen von Goethes «Reineke Fuchs» mit den Radierungen von Kaulbach. Der Maler hatte den Tieren ihre Torheiten und Leidenschaften und Reineke seine hinterhältige Bosheit so ausdrucksstark in die Ohren, Schnauzen, Augen, Körperhaltungen, ja in den Sitz der Klamotten eingeschrieben, dass ich mir mühelos meinen eigenen Vers drauf machte.

Ich sass am Klappult im Studierzimmer des Vaters, und die Reden und Gegenreden tönten mir laut durch den Kopf: beschränkte Aufgeblasenheit von König Löwe, schmeichelnde Eitelkeit von Frau Königin, Gebrüll des täppischen Bären in der Baumfalle, Bettelgreinen des Löwenprinzen mit Krönchen auf dem Nachttopf, eingebildetes Werweissen des nichtsnutzigen Ärztekonsiliums Eule, Eber und Fuchs am Krankenlager des Königs, heuchlerische Kopfstimme des Büssers Reineke – und bei erster Gelegenheit fauchender Angriff, kaltblütiger Mord. Mein Text sass so sicher, dass ich ihn mir, sobald ich das grossformatige Buch wieder hervorzog, recht der Reihe nach vorsagen konnte. Ich hielt es wie das Schulmeisterlein Maria Wutz zu Auenthal, das sich die Kosten für den Leipziger Messekatalog vom Mund abspart, um die Werke mit ansprechenden Titeln, so Schillers «Räuber» und Kants «Kritik der reinen Vernunft», dann selbst zu verfassen.

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