Читать книгу Giacometti hinkt. Fünf Wegstrecken, drei Zwischenhalte. Erzählungen онлайн

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Um sechs Uhr morgens zwitschern die Vögel wie verrückt. Sie wissen, was los ist. Helen erhebt sich schlaftrunken und steigt über den königlich schlummernden Uwe hinweg. Sie greift nach dem Seidenhemd, das auf dem Stuhl übernachtet hat, sie will nach dem Jungen sehen. Das Kel­lerfenster steht offen, und sie erschrickt. Aber die Tasche und der Krimskrams liegen noch da, die Schuhe stehen säuberlich gepaart vor der Holzbeige. Helen atmet auf. Sie muss an sich halten, um nicht in Jubel auszubrechen und dann in Gelächter, denn der Anblick der verhassten Schuhe ist die reine Lieblichkeit. Nun sind sie ein Pfand für ein grösseres Abenteuer geworden, das ihr bevorsteht. Und sie hofft, dass auch Uwe mit von der Partie sein wird, wenn es darum geht, ein stummes kluges fremdes Menschenkind kennenzulernen. Tagtäglich.

War es tatsächlich so? Natürlich war es nicht so. Wishful thinking war’s, der Tag- und Nachttraum einer sozial Engagierten, die wider Willen bei den Grünen politisiert. Und dass sich der bestens dotierte Weinkeller eines gut situierten Paares in Bethlehems Stall verwandelt, ist des Guten zu viel. Das mit den Körpern und Seelen traf hingegen zu. Und es hatte nichts, aber auch gar nichts zu schaffen mit dem, was sich derzeit erotisch auf der Benutzeroberfläche des Digitalkosmos kräuselt. Selfies und Emojis und Blümchen und Herzchen und Softporno und Hardporno und beide mit einem Strauss Bildchen, die Minderjährige und Überfällige bloss mit der Netzhaut wahrnehmen können, falls sie darauf stossen. Dieses Paar findet sich rasch in der Tiefe darunter, dort wo sich die letzte archaische Kraft regt, die alles wegschwemmt, was sich an Ratgeberliteratur für sogenannten guten Sex so­wie an therapeutischem Beigemüse auf der Haut des mitmenschlichen Umgangs ansammelt.

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