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Den Kopf ans Zugfenster gelehnt, beobachtet Fleur die Klassenkameraden. Sie dösen oder lesen für den Deutschunterricht die Briefe vom 1. Juli bis und mit 8. August aus Die Leiden des jungen Werthers. Fleur hat schon die ganze Geschichte gelesen. Sie äugt in Michaels Buch, um sich ins Gedächtnis zu rufen, worum es in diesen Kapiteln geht. «Wir sehen glückliche Menschen, die wir nicht glücklich machen, und das ist unerträglich.»

Im Abteil nebenan unterhält sich Geschichtslehrer Minder mit Cleophea. Da haben sich zwei gefunden. Cleophea, die schon als Kleinkind die Erzählungen aus der griechischen Mythologie vorgelesen bekam und Archäologin werden will, und Minder, der eine Heilige in der sixtinischen Kapelle als die schönste Frau der Welt bezeichnet. Er streicht sich eine Haarsträhne über die Glatze und zieht Luft zwischen den Zähnen hindurch. «Dieses Zischen», stöhnt Michael. Früher wäre Sarah neben Fleur gesessen, hätte sich an sie gelehnt. Sie hat ihren Geruch noch in der Nase. Körperdunst vermischt mit Indianerseife aus dem Welt-Laden. «An meinen Körper kommt nichts, was die Umwelt belastet», sagte Sarah. Sie war in allem konsequent, viel konsequenter als Fleur. Stur ist sie, fanatisch. Wie kann sie sich von dieser Sekte einnehmen lassen. Sarah, die Kritische. Früher hätte sie in der Klosterkirche, zu der Fleur mit der Klasse unterwegs ist, Fragen gestellt zur Rolle des Abtes und des Papstes, sie hätte den Zehnten, den die Landbevölkerung abgeben musste, verurteilt, und die Unterdrückung der Frauen in der katholischen Kirche kritisiert. Und jetzt versucht Sarah alle, die ihr begegnen, davon zu überzeugen, dass sich Darwin irrte und die Menschheit von Adam und Eva abstammt. Sie hat es Fleur gegenüber mit dem Staub begründet, der überall liegt. Fleur hat den Zusammenhang nicht begriffen. Nächtelang diskutierte sie mit ihr, aber Fleur ist nicht bibelfest. Jedes Mal, wenn Sarah aus der Bibel zitierte und zu einer Interpretation ausholte, zum Beispiel, Homosexualität sei eine Sünde, zog Fleur den Kürzeren. Sie war sicher, dass Sarahs Auslegung nicht stimmte, mit Bibelversen belegen konnte sie es nicht. «Gott hat nichts gegen Liebe, falls es ihn überhaupt gibt, und ein Wort enthält keine absolute Wahrheit», versuchte sie es. «Nimm als Beispiel das Wort Freiheit. Es kann das Gegenteil von Knechtschaft bedeuten, Bewegungsfreiheit, Ungebundenheit, Eigenverantwortlichkeit, Anarchie, Selbstbestimmung, Freizügigkeit. Das hast du doch auch gelernt.» Sarah meinte, es sei nun mal so, dass Gott die Bibel diktiert habe, und sie gehöre zu den Auserwählten, die sie verstünden.

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