Читать книгу Lockdown, Homeschooling und Social Distancing – der Zweitspracherwerb unter akut veränderten Bedingungen der COVID-19-Pandemie онлайн

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Die Lehrkraft eröffnet ihre „small story“ (Bamberg/Georgakopoulou 2008) mit einer tautologischen Aussage, die hervorhebt, dass das zu Erzählende kein Einzelfall ist, sondern Teil eines größeren Problemkomplexes: „(-) des is ja wieder DES;“ (Zeile 1): Wenn sie den Computerraum nutzen wollte, dann „mussten erst immer alle ANderen rein“ (Zeile 3). Sie und ihre Klassen wurden immer zurückgestellt. Durch die Verwendung des Modalverbs „müssen“ stellt sie dar, dass diese Praktik von den anderen nicht als etwas aufgefasst wird, das ihren eigenen Intentionen entspringt, sondern als zwingend erachtet wird. Mit dem Modalverb „müssen“ verweist sie auch darauf, dass ihr die Möglichkeit verwehrt ist, sich gegen diese Praktik zur Wehr zu setzen. Wie dieses Zurückdrängen auf den letzten Platz in der Reihe in ihrer Schule legitimiert wird, inszeniert die Lehrkraft dann, das footing wechselnd (vgl. Goffman 1981), als direkte Rede derjenigen, die vor ihr in den Computerraum „müssen“: „weil die vau ka el isch ja nich WICHtig“ (Zeile 4). In dieser Rede animiert sie die Aussagen der „anderen“ (vgl. Goffman 1981) und deckt sie als Ideologie auf, die sich an ihrer Schule etabliert hat. Diese Ideologie dekonstruiert sie nun schrittweise, indem sie erstens eine andere Reihenfolge als notwendig postuliert, und zweitens dreifach begründet, warum dieses Umkehren der Reihenfolge notwendig ist. Erstens: Nur ein digitales Lernarrangement garantiert die Aufrechterhaltung des Unterrichts; dies korreliert mit ihrer Aussage an anderer Stelle, dass der Unterricht per Lernpakete für sie nie wieder in Frage kommt (vgl. Kap. 3.1). Zweitens: Ihre Schüler*innen bedürfen der intensiven Betreuung durch die Lehrkraft; ein Selbstmanagement der Schüler*innen kann nicht erwartet werden, denn sonst „machen die einfach ts drei wochen NIX.“ (Zeilen 13–14). Drittens: Der Lernprozess der Schüler*innen der VKL ist prekär, und eine dreiwöchige Pause wird alle Lernerfolge zunichtemachen, auch weil die Eltern nicht in der Lage sind, die Kinder zu unterstützen: „der spricht dann den ganzen tag aRABisch mit seiner mutter?“ (Zeilen 18–24). Jede einzelne der Begründungen wäre ihrerseits diskussionswürdig. Sie dienen im vorliegenden Zusammenhang dazu, die Dringlichkeit der Umkehrung der Reihenfolge zu illustrieren und die von der Lehrkraft identifizierte Ideologie der Schule, die ihrer Klasse den Zugang zum Computerraum verwehrt, zu kritisieren. Das Verwehren des Zugangs zum Computerraum ist, wie die Lehrkraft schon zu Beginn der Erzählsequenz indiziert, Teil eines größeren Problemzusammenhangs, der sich im Kontext der Pandemie und der damit einhergehenden Dringlichkeit der Digitalisierung aller Klassen erneut zeigt: Die Schule nimmt die Verantwortung für ihre schwächsten Glieder nicht wahr, verkennt die spezifischen Bedürfnisse und Problemlagen der VKL-Schüler*innen und verwehrt ihnen daher Ressourcen, die für ihren Lernerfolg essentiell wären. Diese Lehrkraft hier war, wie sich im Verlauf des Interviews herausstellt, zwar dennoch in der Lage, ihre Schüler*innen auf den Online-Unterricht vorzubereiten. Dafür setzte sie nicht nur die eigentlich vorgesehene Schulzeit ein, sondern führte mit den Kindern teilweise mehrstündige Telefonate – auch am Wochenende.

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