Читать книгу Ich bin Vera. Durch meinen Schatten онлайн

7 страница из 36

Ich laufe an einem Wohnblock vorbei mit einer Notfalltreppe. Da muss ich rauf. Wenn ich erst mal oben angekommen bin, geht es nur noch bergab. Wie viel Frische hier oben herrscht. Hast du die auch gespürt, kurz bevor du dich aufgehängt hast? Die Frische und Leichtigkeit, die einen packen, wenn man weiß, dass es gleich zu Ende ist. Das Hupen der Autos ist mein Abschiedslied, auf dem Rand des Daches, auf dem ich stehe, ziehe ich meine Maske ab, als stünde ich auf einer Bühne. Applaus für die Show, die nun vorüber geht. Und der Oscar für den besten Möchtegern-Helden geht an mich. Ich danke allen Menschen, die mir nie geholfen haben und nie für mich da waren. Ich danke meiner Mutter für ihre miserable Erziehung, ich danke meinem Vater für seine Absenz. Ohne euch hätte ich dieses Meisterwerk des Versagens nie hinbekommen. Ich dreh mich mit dem Rücken zur Straße, strecke die Arme aus wie die Jesusstatue in Rio, lasse mich fallen. Ich muss halluzinieren, denn meinen letzten Moment erlebe ich in Zeitlupe, sodass ich meine Tränen in der Luft beobachten kann. Sie hängen mit mir in diesem Zeitraum-Zirkus. Auf Wiedersehen Weinen, leider darf ich dich nicht mitnehmen ins Grab, denn Kummer ist für die Lebenden. Mir kommen Bilder meiner Vergangenheit hoch, wie in jeder Nahtod-Erfahrung klischeehaft beschrieben, löse ich mich auf, indem alles sich ein letztes Mal wiederholt. Wie schön diese Tragödie doch war, wie sehr habe ich bereut, dass ich einem Mädchen in der Primarschule den Zopf mit der Schere abgeschnitten hab. Wie oft habe ich aus dem Fenster geschaut, als es regnete, wie viele Schläge habe ich kassiert, wie viele Küsse habe ich geteilt. Ich sehe alles, bis zu meiner Geburt. Wie viele Male habe ich dieses Leben gewählt, um meine Entscheidung doch noch zu ändern. Der Boden rückt näher und näher. Ich darf gehen und nie wiederkommen und falls ich doch zurückkehre, sehe ich dieses Mal ein, dass ich kein Held sein muss. Ehrlich, offen über meine Gefühle und den Menschen nahe, wirklich nahe, wäre ich in einem hypothetischen zweiten Leben. Nur nicht in diesem. Mein Körper prallt schlussendlich am Boden auf. Die Knochenbrüche geben einen hohlen Klang, mein Blut fließt aus dem Kopf heraus und bemalt den Straßenrand in feurigem Rot. Mein Leid ist zu Ende und der Schrei einer Passantin fängt damit an. Nun kannst du mich sehen, Welt, wie niemals zuvor, ich war der Schmerz, den niemand dir anmerkt, niemand anspricht, niemand anfasst und niemand sieht. Ich war die Trauer, die in einem herrscht und dich immer besiegt. Ich bin das Leid, das unausweichliche, das jeder von uns versucht auszutricksen. Die Ambulanz kommt, die Sirenen rufen nach mir, doch ich bin schon fast ganz weg, darf von oben alles noch mitansehen. Das Grauen in den Gesichtern der Leute ist das gleiche Grauen, das ich vor mir selbst hatte. Der Lärm, der sich bildet, ist der Lärm meiner inneren Stimme, die nach Gnade suchte. Die Leere, die ich in mir trug, ist die Leere, die ich hinterlasse. Sieh mich an, Welt, jetzt gehöre ich dir, jetzt gehöre ich mir. Mein Körper wird von der Ambulanz ins Spital gefahren, mein Geist schwingt zwischen Leben und Tod. Irgendetwas hängt noch fest. Trotz des Sturzes klebt ein Teil von mir immer noch an diesem Dasein. Ich komme in der Notaufnahme an, tatsächlich schaffen es diese Schwachköpfe, mich zu reanimieren und in ein Koma zu versetzen. Oder ich verfalle ganz von allein ins Koma, keine Ahnung, bin ja kein Arzt. Schön ist es hier, ich meine nicht das Krankenhaus, sondern die Dimension, in welcher ich mich befinde. Ruhe herrscht hier, kein Kampf gegen mich selbst. Es ist fast so, als könne ich all die Trauer und den Schmerz von hier aus akzeptieren, ja sogar sehen, wie er eine Funktion erfüllt. Ach du meine Scheiße, mein Leid hat ja Bedeutung. Und was jetzt?

Правообладателям