Читать книгу Corona im Kontext: Zur Literaturgeschichte der Pandemie онлайн
29 страница из 34
Homers Ilias führt jene Epidemie, die die griechische Armee gegen Ende des Trojanischen Krieges heimsucht, auf eine Intervention Apolls zurück; die Vision der Krankheit als „göttliche Epiphanie“ (Marx 2020) konzentriert ein mythisches Weltbild – und stellt eine Herausforderung für moderne Rewritings dar: Während Madeline Miller in The Song of Achilles (2011) das Szenario plausibilisiert, wird die direkte Aktion der Götter in Alessandro Bariccos Omero, Iliade (2004) eliminiert. Das religiöse Paradigma dominiert über viele Jahrhunderte: In Boccaccios Decameron wird die Frage nach der Ursache jenes „tödliche[n] Pestübel[s]“, „entweder durch Einwirkung der Himmelskörper entstanden oder […] von Gott als Strafe über den Menschen verhängt“, elegant suspendiert. Als „vengeance de Dieu“ erscheint die Pest in Agrippa d’Aubignés Poem Les Tragiques (1616: 231); in seiner Fabel Les Animaux malades de la peste (1678) assoziiert La Fontaine Religionstopos und allegorisierte Gesellschaftskritik.
Als Dokument einer Übergangsepoche ist Defoes Journal of the Plague Year von besonderem Interesse. Auch zur Zeit der Pest von Marseille, da Defoe sein Werk verfasst, beschwört der Bischof der Stadt einen „Dieu irrité“ (zit. Fabre 1998: 139). Und doch vollzieht sich schon lange vor der Revolution eine schleichende Dechristianisierung; als „Geschichtsakzelerator“ enthüllt die Epidemie die sukzessive „Entzauberung der Welt“ (ibid.: 158f.). Diese reflektiert Defoes Journal (1995): Gegenüber der „atheistical profane mirth“ einiger Libertins verteidigt der Erzähler die Deutung der „Divine vengeance“; andererseits repräsentiert er die Stimme aufgeklärter Vernunft: Luzide analysiert er seine eigene Prägung durch die Doxa der Epoche, so in Bezug auf den Kometen, der die Pest angeblich ankündigt (wie ein anderer den Großen Brand von London im Jahr darauf) – weiß er doch sehr gut, „that natural causes are assigned by the astronomers for such things […]“. Diese Spannung besitzt eine sozioökonomische Komponente. Als gebildeter, wohlhabender Mann steht „H. F.“ über den „delusions“ der „poor people“; es sind die Armen, die auf allerlei „quacks and mountebanks“ hereinfallen, ihr Geld für „charms, philtres, exorcisms, amulets“ verschwenden. Unübersehbar die Genderdimension: Die rationale Männlichkeit des Erzählers bestätigt die Aversion gegen „old women“ – beiderlei Geschlechts – und „old wives’ tales“.