Читать книгу Corona im Kontext: Zur Literaturgeschichte der Pandemie онлайн

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Mandels „prophet“, Reinkarnation einer langen intertextuellen Tradition, stirbt mit seinem persönlichen Palimpsest in der Tasche, einem bis zur Unleserlichkeit bekritzelten Exemplar des Neuen Testaments (2015: 303). Der Diskurs dieses Recycling-Propheten antizipiert die unheimliche Wiederkehr religiöser Narrative im Corona-Kontext; angesichts „eschatologischer Resurgenzen aus einem fernen Mittelalter“ (Schnapp 2020) ist Stichweh (2020: 203) nicht zuzustimmen, wenn er befindet, „dass dem Anschein nach nirgendwo religiöse Deutungsvarianten des durch das Virus ausgelösten Krisengeschehens […] eine relevante Rolle spielen“; wenn auch im Vergleich zu früheren Epochen marginalisiert, wird jene „traditionelle Sinnressource“ (ibid.) sehr wohl aktiviert – und paradox digital amplifiziert. Auch anderweitig erlebe man derzeit, ironisiert Beigbeder, „une nouvelle version de la guerre de religion“, die „Dieu par Twitter“ ersetzt (2021: 24).

Dies nicht nur in aus eurozentrischer Perspektive exotischen Gefilden: So registriert eine okzidentale Leserschaft eventuell mit einer Spur postkolonialer Arroganz, dass Sakpata, Pockengott der westafrikanischen Ewe, ein Corona-Revival widerfährt (B. Meyer 2020: 148f.) oder dass Tansanias Staatschef John Magufuli auf einen „Gebetsmarathon“ setzt (Dieterich 2021), bevor er selbst mutmaßlich an Covid stirbt; allein: Nicht nur Jair Bolsonaro ruft zum nationalen Fasttag auf, auch (inzwischen Ex-)US-Vizepräsident Mike Pence „Wants You to Pray the Coronavirus Away“ (Walters 2020). Wenig überraschend ist für die IS-Terrormiliz „Gottes Hand“ am Werk (zit. Kurier 2020); absehbar auch die christliche Hardcore-Interpretation: In zweifelhafter Orthographie übermittelt Kate Blitz ihre Corona-Prophecies From God (2020); im praktischen E-Format erfährt die Leserin, warum dieser exakt 2045 ein „Second Deadly Black Virus“ zu schicken gedenkt. An der Anti-LGBT+-Front finden Repräsentanten unterschiedlicher Religionen zueinander; ein US-Pastor warnt vor dem „homovirus“, während ein sephardischer Rabbi Pride-Parades als Trigger göttlicher Rache identifiziert (Greenhalgh 2020). Eine gewisse Ambiguität zeigt sich bis hinein in den Mainstream der großen Monotheismen: Der Churer Weihbischof ortet seinerseits eine „Strafe Gottes“ (Kajan 2020); im deutschen Kontext ist die Kontroverse zwischen Henryk M. Broder und Heinrich Bedford-Strohm als EKD-Ratsvorsitzendem aufschlussreich. In Polen werden Anti-Corona-Rosenkränze via Facebook gebetet, doch auch im laizistisch geprägten Frankreich erläutert der Bischof von Bayonne die aus der Pandemie zu ziehenden „leçons de conversion et de purification“; auf ihren „causes spirituelles“ insistiert der Imam von Brest (Daussy 2020). Nicht nur in der Krise neu entstandene, sondern auch etablierte Sekten wie die Zeugen Jehovas setzen auf sozmediale Mission (Brändle 2021).


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