Читать книгу Gesammelte Werke . Romane, Novellen, Erzählungen, Gedichte und Autobiographie онлайн

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Unterdes hatte das Fräulein ein Volkslied angefangen. Die Tante unterbrach sie schnell und ermahnte sie doch lieber etwas Vernünftiges und Sanftes zu singen. Leontin aber, den dabei seine Laune überwältigte, setzte sich statt des Fräuleins hin und sang sogleich aus dem Stegreif ein zärtliches Lied so übertrieben und süßlich, daß Friedrich fast übel wurde. Fräulein Julie sah ihn groß an und war dann während seines ganzen Gesanges in tiefe Gedanken versunken. Erst spät begab man sich zur Ruhe.

Das Schlafzimmer der beiden Gäste war sehr nett und sauber zubereitet, die Fenster gingen auf den Garten hinaus. Eine geheimnisvolle Aussicht eröffnete sich dort über den Garten weg in ein weites Tal, das in stiller, nächtlicher Runde vor ihnen lag. In einiger Ferne schien ein Strom zu gehen, Nachtigallen schlugen überall aus den Tälern herauf. Das muß hier eine schöne Gegend sein, sagte Leontin, indem er sich zum Fenster hinauslehnte. Sie kommt mir vor, wie die Menschen hier im Hause, entgegnete Friedrich. Wenn ich in einen solchen abgeschlossenen Kreis von fremden Menschen hineintrete, ist es mir immer, als sähe ich von einem Berge in ein unbekanntes, weites, nächtliches Land. Da gehen stille breite Ströme, und tausend verborgene Wunder liegen seltsam zerstreut, und die fröhliche Seele dichtet bunte, lichte, glückliche Tage in die verworrene Dämmerung hinein. Ich habe oft gewünscht, daß ich die meisten Menschen niemals zum zweiten Male wiedersehen und näher kennen lernen dürfte, oder daß ich immer aufgeschrieben hätte, wie mir jeder zum ersten Male vorkam. Wahrhaftig, fiel ihm Leontin lachend ins Wort, sprichst du doch, als wärst du von neuem verliebt. Aber du hast ganz recht, mir ist ebenso zumute, und es ist nur schade um ein redliches Herz, das durch eine immerwährende Täuschung so entherzt wird. Denn wenn in jene schöne, ungewisse Nacht der ersten Bekanntschaft nach und nach der Tag anfängt herüberzuschielen und die nüchternen Hähne krähen, da schleicht ein wunderbarer Geist nach dem andern abseits; was in der Nacht wie ein dunkler Riese dastand, wird ein krummer Baum, das Tal, das aussah wie eine umgeworfene, uralte römische Stadt, wird ein gemeines Ackerfeld, und das ganze Märchen nimmt ein schales Ende. Ich könnte so fromm sein, wie ein Lämmchen und niemals eine Anwandlung von Witz verspüren, wenn nicht alles so dumm ginge. Friedrich sagte darauf: Nimm dich in acht mit deinem Übermute! Es ist leicht angenehm, zu verspotten, aber mitten in der Täuschung den großen, herrlichen Glauben an das Bessere festzuhalten, und die andern mit feurigen Armen emporzuheben, das gab Gott nur seinen liebsten Söhnen. Ich sage dir in vollem Ernst, erwiderte Leontin ungemein liebenswürdig, du wirst mich noch einmal ganz bekehren, du seltsamer Mensch. Gott weiß es wohl, mir fehlt noch viel daß ich gut wäre. -

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