Читать книгу Giacometti hinkt. Fünf Wegstrecken, drei Zwischenhalte. Erzählungen онлайн

6 страница из 52

Noch immer starrt Helen auf dieses Stück Wehrhaftigkeit, mit der sie auf keinen Fall unterwegs sein will. Sie packt die Schuhe, öffnet eine Türe und schleudert die im Grunde redliche Hässlichkeit in den Stauraum, ein be­freiender Akt.

Helen dann im Wohnraum am langen Glastisch, barfuss auf Jadeschiefer, das tut gut, wenn man ratlos ist. Mit den Fusssohlen die Unruhe wegscheuern, das hilft. Sie stützt die Ellbogen auf und verschränkt die Hände über der Stirn. Bisher war das kein Thema gewesen, nicht der geringste Konfliktstoff zwischen ihnen. Dass Uwe Deutscher war.

Er würde sie auslachen, du ins IKRK? Dafür bist du doch viel zu alt, mein Schatz. Und sie würde trotzig erwidern, dann wird sich zeigen, ob diese vielgepriesene Jugendlichkeit, die mir dauernd attestiert wird, etwas taugt. Sie ging in ihr Zimmer, nahm das Fotoalbum aus dem Regal. War wieder das kleine Mädchen, das diese Schuhe im Korridor des Elternhauses stehen sah und entsetzt rief: Paps, musst du in den Krieg? Uwes Schuhe sahen ge­nau so aus wie jenes Paar, das die Mutter am Vortag einfettete, wenn der Vater einrücken musste. Nein nein, Paps muss bloss zur Inspektion. Beschwichtigte sie, um das Kind zu beruhigen, das nachts aus dem Schlaf aufschreckte und schrie, weil es die Kriegsbilder aus dem Nachbarland hatte sehen wollen. In einer Mappe, die ein ausländischer Besuch hinterlassen hatte, es waren scharf konturierte Schwarz-Weiss-Fotos. Während die Siebenjährige die deutsche Katastrophe betrachtete, lief im Radio Ravels «Bolero». Seither konnte Helen diese Musik nicht mehr hören, ohne dass Ruinenstädte auftauchten, finstere Bauten hinter Stacheldraht, Wachtürme und stehende Waggons, vor welchen Häftlinge herumfuhrwerkten, wozu, war ihr schleierhaft. Im Nachhinein staunte sie über ihre Mutter, die Reformpädagogin, die keine Zinnsoldaten als Spielzeug duldete, wohl aber den An­blick dessen, was man kleinlaut als Zivilisationsbruch bezeichnet hat: die Vernichtungsmaschinerie des Naziregimes. Helen dachte mit Wärme an sie, die seit langem tot war. Sie war eine mu­tige Frau gewesen, vollkommen unsentimental in der Er­ziehung, hatte ihre Kinder früh konfrontiert mit den Greueltaten, zu welchen Menschen fähig sind. Du kannst mich immer fragen, wenn du et­was auf dem Herzen hast, Helen hat diesen Satz noch im Ohr. Aber die Erstklässlerin fragte nicht. Es gab zu diesen Bildern, hinter welchem sie das Schlimmste witterte, keine Fragen, ausgenommen die eine, unbeantwortbare: Warum?

Правообладателям