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Der Neuling sagt sich: zuerst lernen, nicht aufmucken, jedes Handwerk hat seine Regeln usw. (Die Zensur wird ihm stets mit dem Hinweis aufs Handwerk und seine unabänderlichen Regeln erklärt.) Und er hofft auf die Zukunft, wie schon im Gymnasium und auf der Uni. Er gelobt sich auch, es später besser zu machen, wenn er zum Schreiben kommt, nicht mit den ganzen Politikern verhängt zu sein und nicht mit jedem Stadt-, National- und Bundesrat auf du zu stehen, die Dinge beim Namen zu nennen. Nach zwei, drei Jahren ist es soweit, er darf kommentieren, etwas Wichtiges.
Es trifft sich (nehmen wir an), dass er einen Kommentar zur Wahl des neuen Bundesrats X abgeben soll, der allgemein als verklemmter Streber bekannt ist und ausser seinem Machthunger nichts anzubieten hat. Unser Redaktor geht also hin, rekonstruiert den Aufstieg des X und schält die grossen Linien heraus. Manipulation der eigenen Partei durch X, Hervorkehrung des Biedersinns in den öffentlichen Ansprachen, hinterlistiges Abmeucheln von Konkurrenten, Abwesenheit von grossen Ideen, Bereicherung in Verwaltungsräten, Opportunismus in der Kommissionsarbeit, Verhinderung demokratischer Kontrolle in der eigenen Partei. Er geht hin und schreibt: «Bundesratskandidat X, der in seinem Heimatkanton allgemein als verklemmter Streber bekannt ist und ausser seinem Machthunger nichts anzubieten hat.» Er liest den Satz noch einmal, und da fällt ihm auf, dass der Ressort-Chef so etwas nicht durchgehen lässt. Also korrigiert er sich: «Bundesratskandidat X, dem allgemein eine etwas zu grosse Eilfertigkeit bei der Erklimmung der politischen Leitersprossen nachgesagt wird und ein etwas prononcierter Machtappetit –.» Und in dem Stil schreibt er weiter, nicht ohne Erwähnung der durchaus auch vorhandenen positiven Eigenschaften des X. Das Manuskript passiert knapp die Zensur des stirnrunzelnden Ressort-Chefs. Der Artikel erscheint, X liest ihn, telefoniert sofort dem Chefredaktor, seinem alten Kegelbruder und Jassfreund, und sagt: «Das hätte ich von dir nicht gedacht.» Der Chefredaktor zitiert den Jungredaktor, putzt ihm die Kutteln, und bei der nächsten Redaktionssitzung spricht er von Berücksichtigung aller Standpunkte, von nuanciertem Schreiben und ausgewogenem Journalismus, schwärmt von Objektivität und publizistischer Grundhaltung.