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Mit seiner Zeichenkunst hatte Sitte sich einen exakten Abbildrealismus erarbeitet. Aber die Verabsolutierung des Details gilt als Naturalismus, denn das bloße Faktum ist erst der Rohstoff für den Künstler. Im Gegensatz zum „objektivistischen“, den bloßen Tatsachen verhafteten „bürgerlichen“ Naturalismus soll der Sozialistische Realismus die Realität, auch die historische, aus einer sozialistischen Perspektive widerspiegeln. Was aus der Fülle der Erscheinungen wesentlich und „typisch“ ist, entscheidet in letzter Instanz die Partei. Daher sieht das geschulte Auge des Zensors sofort die richtige oder falsche politische Einstellung des Künstlers zur Wirklichkeit. Der Künstler ist aufgefordert, durch das Studium der marxistisch-leninistischen Weltanschauung zu lernen, immer das jeweils Richtige und Typische zu sehen und zu erkennen. Dafür gab es Kurse in Parteihochschulen, die sogenannte „Rotlichtbestrahlung“, von der Willi Sitte allerdings verschont blieb.6

Sozialistischer Realismus ist eine inszenierte Wirklichkeit, ein Wunschbild, eine ins Hier und Heute projizierte Sicht der Vergangenheit (z. B. von der Märzaktion 1921 im Leuna-Werk, ssss1) oder eine Antizipation der Zukunft (Leuna 1969, ssss1). Da die Kriterien des Sozialistischen Realismus, die Maxim Gorki (1868–1936) in seiner Rede auf dem Ersten Allunionskongress der Sowjetschriftsteller (17.–19. August 1934) in Moskau entwickelte – Primat der Politik über die Kunst und die Realität, parteiliche Definition der Wahrheit, Optimismus, Perspektive und Volksverbundenheit – außerkünstlerische sind, konnte die Doktrin später ohne weiteres von der Literatur auf die bildende Kunst, Musik, Architektur und den Film übertragen werden. Es geht um ein politischtheologisches, nicht um ein künstlerisches Projekt. Willi Sitte konnte sich dabei nie sicher sein, ob er beim Abbilden der Wirklichkeit auch das – aus Sicht der Partei – für die zukünftige Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft Typische, nämlich die richtige politische Linie getroffen hatte. Wollte Sitte in der DDR als Maler Erfolg haben, musste er sich also dem unerforschlichen Willen der Partei bedingungslos unterwerfen. Diese Ausrichtung der malerischen Praxis auf eine äußere objektive Instanz blieb für ihn eine Herausforderung, der er sich lange zu entziehen suchte, letztendlich aber unter Anleitung führender Genossen wie Horst Sindermann (1915–1990) unterwarf. Einerseits beteuerte Sitte: „Ich selber bin nie – um auf meine Realismus-Version zu kommen – davon ausgegangen, wie die Welt zu sein habe, sondern wie sie ist.“ Andererseits „wollte ich mit der Abbildung von Realität auch eine Utopie vermitteln.“7

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