Читать книгу Kritik der digitalen Unvernunft. Warum unsere Gesellschaft auseinanderfällt онлайн
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Auch der Buchdruck lehrt es: Was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen. Es genügt, des Lesens kundig zu sein, um sich in die gedruckten Worte zu vertiefen. Mitgeführt wird dabei das Wissen vom anderen, der dasselbe liest. An allen Orten, wo ein Buch der gleichen Auflage auftaucht, verkündet es den identischen Inhalt. Die mündliche Überlieferung büßt an Wert ein, sobald das Buch völlig neue Maßstäbe setzt. So verliert die Idee der Wahrheit unter dem typografischen Diktat ihren metaphysischen Nimbus und reorganisiert sich als faktengebundene Realität. Das naturwissenschaftliche Zeitalter beginnt mit einer Definition von Wahrheit, deren Wesen die Reproduzierbarkeit ist. So wie die Druckmatrize immer denselben Text ausgibt, gilt ein Experiment als Kern der neuen Wissenschaften nur dann als wahr, wenn es unabhängig von Ort, Zeit und Protagonisten exakt dasselbe Ergebnis (re)produziert.
Sucht man nach historischen Belegen für diese These, wird man schnell fündig. Bereits im ersten Jahrhundert nach Gutenberg beginnt das Projekt der Mathematisierung der Natur. Die fallenden Steine bekommen Indizes, die Kanonenkugeln fliegen durch den Buchstabenraum der gleichmäßigen Einheiten, und den Abläufen in der Natur werden Überschriften wie die des Fallgesetzes angeheftet. Der Buchdruck spannt eine völlig neue Wahrnehmungsfolie auf, vor deren Grundlage sich die westliche Welt in den Stand gesetzt sieht, Erfahrungen zu homogenisieren und zu rationalisieren. Die Idee der uneingeschränkten Macht über die Naturkräfte kann als Resultat dieses Prozesses gelesen werden. Dass sie sich letztlich als Hybris erweisen soll, steht auf einem anderen Blatt.