Читать книгу Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe. Herausgegeben und ergänzt um Aufsätze, Primärbibliographie und Nachwort von Matthias Bormuth und Martin Vialon онлайн

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Damit ist seine Rolle in der Komödie im wesentlichen umschrieben – freilich das System der vielfachen miteinander verknüpften Bedeutungen kaum angedeutet –, das würde eingehende Interpretationen verlangen und sehr schnell in das Dickicht der Fachpolemik führen. Aber VergilVergil ist ja nicht nur Träger einer Bedeutung, nicht nur Symbol eines erhabenen und weitreichenden Gedankens – er ist in der Komödie ein lebendiger Mensch, obgleich de iure der Schatten eines Verstorbenen; das Bild seines persönlichen Wesens, wie es DanteDante erschien, wird überaus deutlich.

DanteDante besaß in einem sehr hohen Grade das Gefühl der Dankbarkeit, ja sogar das Bedürfnis, dankbar zu sein – besonders gerade denen gegenüber, denen er etwas Geistiges verdankte; es ist dies eine Form jener romanischen Traditionsehrfurcht, der vergilischen pietaspietasvergilische. Davon zeugen in der Komödie die Szene mit Brunetto LatiniLatini, B. und die Begegnung mit den Dichtern Guido GuinizelliGuinizelli, G. und Arnaut DanielDaniel, A.; auch viele andere Stellen und vor allem die Worte, mit denen er im Anfang des Gedichts den Retter VergilVergil begrüßt. Aber vielleicht ist von allen diesen Dingen am zartesten und schönsten die Liebe, mit der er sich hier den Gegenstand seiner Dankbarkeit aus dem Dunkel der Zeiten zu rekonstruieren versucht. O anima cortese mantovana, so redet ihn Beatrice an, und diese cortesiacortesia, die große Tugend der Genossen des Neuen Stils, erfährt in VergilsVergil Person eine Ausdeutung weit über die Grenzen dessen, was sie in der Terminologie der Liebesdichter gewesen war. Sie bedeutet die innere Würde, die stets bereit ist zum Guten, obgleich ihr verwehrt ist, seine Früchte zu genießen – denn VergilVergil ist ausgeschlossen vom Reich Gottes. Was er für DanteDante und damit für das Reich Gottes tut, das geschieht aus der von Einsicht und Bescheidenheit genährten cortesia, einer selbstlosen und ganz autonomen Größe des Herzens, die keinen Lohn erhofft als das eigene Bewußtsein und die Billigung der Guten. Mehr als irgendwer sonst in der Komödie verdankt er seine Einsicht und Tugend sich selbst; Mut und Milde des Herzens, Maß und Festigkeit des Urteils, königliche und zugleich demütige Weisheit bilden in ihm eine in jedem Wort und jeder Geste neu sich offenbarende väterliche Humanität; die Einfachheit eines Menschen, der die höchste Stufe menschlicher Bildung erreicht hat, dieselbe vollendete Einfachheit, die im vergilischen Werk uns bezaubert, hat DanteDante seinem Bilde VergilsVergil gegeben, und darum ist es, trotz aller sonderbaren Züge mittelalterlichen Irrtums, im Innersten wahr. Es hat DanteDante nicht genügt, die gegenseitige Liebe, die ihn mit seinem Meister verband, an vielen Stellen unmittelbar zum Ausdruck zu bringen; er hat noch eine Gestalt geschaffen, die in einem ähnlichen Verhältnis zu VergilVergil steht wie er selbst, um in der Begegnung der beiden die Charaktere und die Beziehung zwischen ihnen gleichsam in einem Spiegel aufleuchten zu lassen. Die Gestalt ist StatiusStatius, der Dichter der Thebais, aus der zweiten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts. Er trifft die beiden Jenseitswanderer im fünften Kreis des Purgatorio; er kennt sie nicht und weiß also nicht, daß der Schatten VergilsVergil vor ihm steht. Auf die Frage nach seinem Geschick antwortet er mit dem Lobe VergilsVergil, dem er seinen Ruhm als Dichter und seine (von DanteDante erdachte) heimliche Bekehrung zum Christentum verdanke. VergilVergil winkt DanteDante zu schweigen; doch eine unwillkürliche Bewegung DantesDante hat StatiusStatius die Wahrheit offenbart, und er kniet vor VergilVergil nieder. Bruder, sagt VergilVergil, tu das nicht; du bist ein Schatten, und einen Schatten siehst du. Und StatiusStatius antwortet, indem er sich erhebt: Mögest du das Maß meiner Liebe zu dir daran erkennen, daß ich unsere Nichtigkeit vergesse, und vor einem Schatten niederknie wie vor dem lebenden Menschen.

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