Читать книгу Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie – Studienausgabe. Herausgegeben und ergänzt um Aufsätze, Primärbibliographie und Nachwort von Matthias Bormuth und Martin Vialon онлайн

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Der fast paradoxe Tatbestand, daß gerade der durch Bildung, Erudition, formale Kultur und gesellschaftliche Stellung gleichmäßig ausgezeichnete und durchaus nicht im gewöhnlichen Sinne populäre VergilVergil zu einem Dichter des Volkes und schließlich zu einer Sagengestalt wurde, hat zunächst äußere Ursachen. VergilVergil war der Dichter des römischen Weltreichs; er setzte an die Stelle des alten römischen Nationalgefühls, das in seiner stadtstaatlichen Beschränkung und seiner italischen Bauerntugend längst seine Geltung verloren hatte, die Ideologie von der Weltmission Roms; er vollendete die Verknüpfung der politischen Lage seiner Zeit mit der sagenhaften Urgeschichte der alten Welt und schuf den Mythos eines planvollen göttlichen Weltlaufs mit dem Ziel der pax romanaPax Romana, des universalen Friedens unter cäsarischer Herrschaft. Durch diese seine Bedeutung gelangte er in den Elementarunterricht und behauptete darin ganz natürlich den ersten Platz, solange das ImperiumImperium Romanum des weströmischen Reiches bestand. Inzwischen war er zu einer gleichsam mechanischen Popularität gelangt, der Unterricht in der Grammatik beruhte vielfach auf Beispielen aus seinem Text und auf Kommentaren zu seinem Werk. Der Schulbetrieb des Elementarunterrichts hielt ihn aufrecht in den freilich nicht allzu langen Zeiträumen, in denen der eigentliche Gehalt seiner Dichtung bedeutungslos war. Diese Zeiträume waren kurz, vielleicht ist in manchen Gegenden Italiens, in Neapel ganz gewiß, die inhaltliche Wirkung nie ganz verlorengegangen. Der Traum vom römischen Weltreich war sehr bald von den Barbarenvölkern aufgegriffen worden, und seine Verbindung mit politischen Plänen und apokalyptischen Visionen während des ganzen MittelaltersMittelalter ist gerade in letzter Zeit mehrfach dargestellt worden. Sie beruht auf der eigentümlichen Doppelstellung Roms als traditioneller Inhaberin der irdischen Weltherrschaft und als Sitz des Nachfolgers Petri. Und von neuem schien gerade das Werk VergilsVergil die Idee des sacrum imperiumsacrum imperium zu legitimieren und die planvolle Kontinuität der Weltgeschichte zu erweisen. Die allegorischeAllegorie Ausdeutung, die im SpiritualismusSpiritualismus der Spätantike und des ganzen Mittelalters eine so große methodische Bedeutung besitzt, hatte sich seiner bemächtigt und fand schon seit dem vierten Jahrhundert in den Versen der vierten Ekloge, die den Anbruch eines neuen glücklichen Weltzeitalters verkünden, eine Prophezeiung des bevorstehenden Erscheinens Christi. Allmählich wurde so VergilVergil gleich der Sibylle zu einem heidnischen Propheten, zu einem heimlichen Christen oder doch wenigstens zu einem unbewußt inspirierten Künder der göttlichen Wahrheit. Sein auch in einem heutigen Sinne berechtigter Ruhm als eines Dichters, dem tiefste und geheimste Weisheit anvertraut ist, hat diesen frommen Irrtum vorbereitet und bestärkt; der Gang in die Unterwelt im sechsten Buch der Aeneis und die überall in seine Dichtung verflochtenen eschatologischen Mythen umgaben seine Person mit dem Nimbus des Magiers, dem die Geister der Höhe und der Tiefe zu Dienst stehen; in der neapolitanischen Lokaltradition (deren Spuren sich später weit verbreiteten) wurde er zu einer Art Schutzheiligen oder Schutzgeist der Stadt, zu einem echten Zauberer, dessen große und wohltätige Magie rein praktischen Zwecken diente. Als Weiser und als Prophet Christi galt er allgemein, und aus dieser Voraussetzung erklärt sich die Wirkung, die er auf die weltgeschichtliche Spekulation des späten MittelaltersMittelalter ausübte. Der Dichter des römischen Kaisertums und Verkünder der christlichen Wiedergeburt schien ein Zeuge für die Deutung des Wortes von der erfüllten Zeit; der Heiland war erschienen, als die Zeit erfüllt war, als die Welt unter Cäsars Herrschaft den Frieden gefunden hatte; dies schien der natürliche Zustand der irdischen Welt, sie würde genesen und bereit sein für Christi Wiederkunft, wenn sie von neuem geeint unter kaiserlicher Herrschaft im Frieden leben dürfte. So etwa ist der allgemeinste Ausdruck der Lehren, die gerade zur Zeit des endgültigen Verfalls des mittelalterlichen Kaisertums leidenschaftlich verfochten wurden; unter den Streitschriften, die sie vertreten, ist DantesDante Monarchie die bedeutendste und berühmteste, und eines der vielen Gesichter der Komödie selbst ist das einer Streitschrift für das vergilische Weltkaisertum.

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