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Schon 1914 bemerkte der Schweizer Schriftsteller und spätere Literaturnobelpreisträger Carl Spitteler in einer am 14. Dezember gehaltenen Rede scharfsinnig (leider muss man auch hier daran erinnern, dass einige Monate zuvor der, wie man sagt, Erste Weltkrieg ausgebrochen war): «Wir haben nicht dasselbe Blut, nicht dieselbe Sprache, wir haben kein die Gegensätze vermittelndes Fürstenhaus, nicht einmal eine eigentliche Hauptstadt. Das alles sind, darüber dürfen wir uns nicht täuschen, Elemente der politischen Schwäche. Und nun suchen wir nach einem gemeinsamen Symbol, das die Elemente der Schwäche überwinde. Dieses Symbol besitzen wir glücklicherweise. Ich brauche es Ihnen nicht zu nennen: die eidgenössische Fahne.» Ehre sei Carl Spitteler.

An der höchsten Fahnenstange des Wankdorf-Stadions würde eine Fahne über den Fahnen von Genf und Zürich wehen: die eidgenössiche Fahne.

Ein Jahr zuvor, also 1913, und diesmal in eben der Stadt, die Zürichs Gegenspielerin ist (im Sport, in der Wirtschaft, im Geiste), das heißt in Genf, der Stadt Calvins und Rousseaus, war einem anderen, allerdings aus einer Minderheit in der Minderheit stammenden Barden, nämlich Francesco Chiesa, einem italienischsprachigen Schriftsteller, die Aufgabe zugefallen, seine Meinung zu dem komplizierten Mosaik zu äußern, das die kleine Schweiz bildet. Er tat es in der ersten der «lateinischen» Städte Helvetiens. Er sprach nicht von den dreitausend (und mehr) Steinchen dieses Mosaiks, von dem angeborenen Widerstand gegen alles, was aus der Hauptstadt kommt, vom Konservatismus, der uns im Blut liegt. Er sprach vielmehr, unter großem Beifall, vom Zusammenleben der Völker in der Eidgenossenschaft, einem Vorbild für Europa und die Welt. Er schloss mit einer Ähnlichkeit, der ewige Dauer bestimmt sei – das Zusammenleben der Völker in der Konföderation sei mit den Säulen eines griechischen Tempels vergleichbar: «alle leicht schräg, alle unmerklich zu einer einzigen Achse hin geneigt, sodass sie, einzeln gesehen, gerade auf ihrem Sockel zu stehen scheinen, frei in ihrer Haltung, gerecht und vollkommen in ihrer Individualität, zusammen gesehen erscheinen alle, so wie sie sind, im Einklang. Das Auge nimmt die Schräge jener marmornen Linien nicht wahr, doch wandert der Blick an ihnen empor, erhebt er sich unbewusst bis zum idealen Schnittpunkt, in dem der gesamte Tempel zusammenläuft und ist … Der griechische Tempel ist eine Pyramide, deren Spitze wir nicht sehen.»

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