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Niklaus Meienberg
Das eigene Leben
Ausgewählt und zusammengestellt von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli
Limmat Verlag
Zürich
Aufenthalt in St. Gallen (670m ü.M.)
Eine Reportage aus der Kindheit
Aus wirtschaftlichen Überlegungen in die Schweiz getrieben, unter anderem nach St. Gallen, wo ich aufgewachsen bin, denn ein Motorrad kostet in der Schweiz ein Drittel weniger als in Frankreich, weil die Mehrwertsteuer wegfällt, aber wirklich nur gekommen, um diese Maschine zu kaufen und dann sehr schnell zu verzischen hinunter ins Pariserbecken, wurde ich im vergangenen April durch die anhaltend schlechte Witterung und ein für die Jahreszeit unverhältnismässig heftiges Schneetreiben in meiner Vaterstadt länger als geplant zurückgehalten, so dass der knirschend akzeptierte Aufenthalt ein Wiedersehn mit den Gespenstern der Kindheit ermöglichte.
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Im Vaterhaus noch die Uhren und das alte Holz, die gedrechselten Lampen, ehemalige Ochsenjoche und Spinnräder, die der Vater zu Beleuchtungskörpern umgebaut hatte, drunten in seinem Reich der Drechslerwerkstatt neben der Zentralheizung, wo er auch die Uhren reparierte. Der Vater ist vor zwei Jahren gestorben auf seine stille Art, liegt jetzt auf dem Ostfriedhof unter einem schmiedeisernen Kreuz, von Maler Stecher leicht aufgefrischt. Wenn die Russen dann in St. Gallen einmarschieren, werden sie mit ihren Stiefeln nicht über die Gräber des Ostfriedhofs zu trampeln vergessen, denn sie haben keine Pietät. Das hatten wir in der Schule gelernt beim Lehrer Ziegler zur Zeit des Koreakrieges, im Krontalschulhaus bei den Kastanienbäumen. Die Russen wollten St. Gallen als Einfallstor benutzen, wie schon Hitler. St. Gallen ist ein unübertreffliches Einfallstor, das war ja auch den Hunnen aufgefallen. Der Vater hatte im Hinblick auf seinen Tod schon jahrelang Grabkreuze gesammelt, die nicht benützten hängen jetzt im Keller neben der Waschküche. So hat er vorgesorgt für seine ganze zahlreiche Familie, die jetzt in der Welt draussen zerstreut ist. In St. Gallen geblieben ist keines.