Читать книгу Die illegale Pfarrerin. Das Leben von Greti Caprez-Roffler 1906 - 1994 онлайн

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Jahrzehnte später wird sich Gretis Traum auf schreckliche Weise bewahrheiten: Nicht ihr Mann, sondern ihr Sohn Gian Andrea, der jetzt an ihrer Brust liegt, wird bei einem Lawinenunglück ums Leben kommen, mit knapp über fünfzig Jahren.


São Paulo,

1930

Ein ungewöhnliches Bild, inszeniert in den Strassen von São Paulo. Die Szene könnte auch irgendwo in Europa spielen: Die Architektur verrät nichts Ortsspezifisches, und schwarze Brasilianerinnen sucht man auf dem Bild vergeblich. Gretis schickes Beret und das figurbetonte Faltenkleid, Gians dunkler Anzug mit Krawatte und Hut – so elegant sieht man die beiden sonst kaum auf Fotos, nicht einmal sonntags. Vermutlich eine Konzession an die Umgebung. Statt zu flanieren wie die andern, liest Greti im Gehen eine Zeitschrift, den Mantel über die Schulter geworfen. Sie wirkt hoch konzentriert, aber ­skeptisch, Gian schreitet geduldig nebenher. Sie war diejenige, die bestimmte, wo es langgeht, sagen Verwandte und Bekannte bis heute unisono. Und er, gleichmütig und harmoniebedürftig, passte sich an. Im Gleichschritt zwar, aber nicht mit demselben Fuss voran, geht das Paar in der Menge. Ein Sinnbild für diese ersten Monate als frisch getrautes Ehepaar, das sich erst finden muss und immer wieder um das rechte Mass an Intimität und Autonomie ringt. Gekleidet wie die Paulistas, Schweizer Zeitungen lesend: Greti und Gian wollten sich alles offenhalten. Sie lernten die Landessprache fliessend (noch im hohen Alter benutzten sie Portugiesisch als Geheimsprache in einem Liebes­brief), und Greti arbeitete in der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde mit. Ob sie bleiben oder in die Schweiz zurückkehren würden, war noch unklar.

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