Читать книгу Die illegale Pfarrerin. Das Leben von Greti Caprez-Roffler 1906 - 1994 онлайн

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Nach dem Bündnerball wanderten Gretis Gedanken immer wieder zu Gian. Eigentlich kam ihr die Begegnung mit ihm ganz und gar nicht gelegen. Sie hatte schon an der Kantonsschule den einen oder anderen Schwarm gehabt, hatte geschmachtet und ­gelitten. Nun wollte sie sich auf das Studium konzentrieren und wehrte sich dagegen, wieder dem Strudel der Leidenschaft ausgeliefert zu sein.63 Gegen den Willen des Vaters hatte sie sich für Alte Sprachen und nicht für Theologie entschieden, denn sie litt an Selbstzweifeln und konnte sich nicht vorstellen, jemals auf einer Kanzel zu stehen. Statt dessen stellte sie sich vor, später Lehre­rin an einem Töchtergymnasium zu werden.64 Doch schon im Lauf des ersten Semesters stellte sie ihre Wahl in Frage. Sie fand es öde, stundenlang über Griechisch- und Lateintexten zu brüten und nach der genauen Bedeutung eines Wortes zu suchen. Unter der Woche verirrte sie sich darum immer öfter in die Räume der theologischen Fakultät gleich neben den Altphilologen, wo über Fragen diskutiert wurde, die Greti brennend interessierten: Was war der Sinn von Leben und Tod? Worin bestand die menschliche Existenz? Fragen, die sich ihr in der Einsamkeit noch drängender stellten.65 Abends nahm ihr Zimmerwirt Paul Schmid sie zu ­religiösen Gesprächsabenden für junge Frauen mit, und sonntags hörte sie gebannt seinen Predigten zu.66 Die Religion wurde in der Grossstadt zur Nische, in der sie sich aufgehoben fühlte – und immer öfter fragte sie sich, ob sie nicht doch zur Theologie wechseln sollte. Um kein Semester zu verlieren, müsste sie ihre ganze Freizeit in das versäumte Hebräisch stecken.67 Doch ausgerechnet jetzt tauchte dieser Gian Caprez auf und stellte ihre Pläne in Frage.

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