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«Eine sehr achtbare Zürcher Familie mit drei Söhnen und einer Tochter steht im Mittelpunkt. Ihre Mitglieder bewegen sich als Repräsentanten innerhalb eines bestimmten helvetischen Durchschnitts.» («Meinrad Inglin. Eine Biographie», Zürich 1976, S. 174) Beatrice von Matt hat sich die Mühe genommen, den alten Inglin nach den wirklich existierenden Modellen für seine Romanfiguren zu befragen, und aus der Diskrepanz zwischen lebendigen Modellen und künstlichen Figuren kann man unschwer ablesen, dass Inglins zürcherische Gesellschaft eine sehr geschrumpfte war, eine vom Bewusstsein des oberen Mittelstands wahrgenommene Welt. (Sehr achtbar.) Da geht ein Landpatrizier in der Stadt spazieren und nimmt auf, was ihm sein Koordinatensystem aufzunehmen gestattet.
Wie war das bei Gottfried Keller? Der als unübertroffener helvetischer Realist gerühmte Erzähler: Was erzählt er, während sein Freund Alfred Escher mit Bismarck auf höchster Ebene um den Gotthard-Durchstich pokert, die Geldströme in die Schweizerische Kreditanstalt leitet wie irgendeine Balzac-Figur, die Eisenbahnspekulation ins Kraut schiessen lässt und in der Villa Belvoir die Finanzmagnaten aller Herren Länder üppigstens bewirtet? Während am Gotthard gestreikt und einige Arbeiter erschossen werden, im Zürcher Oberland in den Fabriken der Textilbarone Gujer-Zeller und Kunz malocht und gehungert wird wie in einem Roman von Dickens? Und etwa 15% der schweizerischen Landbevölkerung von der Hunger-Misere zur Auswanderung gezwungen werden? Er erzählt seine Handwerker- und Schützenfestgeschichten, seine vorindustriellen Kleinstadtidyllen und Schnurrpfeifereien, und wenn's hoch kommt, hat ein mittlerer Handelsherr wie Martin Salander ein paar Schwierigkeiten, weil der betrügerische Kompagnon ihm das Wasser abgräbt. Die Profitgier, Motor des 19. Jahrhunderts: bei Keller eine Ausnahmeerscheinung, die man sich mit gesundem Bürgersinn vom Leibe halten kann, etwas Artfremd-Unschweizerisches, das nicht zu unserem Wesen gehört, die Akkumulationswut als vorübergehende Entgleisung – während sie bei Balzac schon vierzig Jahre früher als Regulativ erkannt wird und als Herz des neuen geldorientierten Systems. Dabei waren die Schweizer Bankiers der siebziger Jahre um nichts harmloser als die Bankiers zu Balzacs Zeiten unter Louis Philippe, nur unsere Schriftsteller waren harmloser als die französischen und viel gemütlicher.