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Das Foto

Die Fenster sind verschieden groß, und das Dach ist auf der einen Seite steiler als auf der andern. Mitten auf der geteer­ten Straße, die vom Haus zum Fluss führt, ist eine lange, schwarze Bremsspur zu sehen. Der kleine Hermann mit dem weißblonden Haar, das wie eine Perücke aussieht, die über seinen Kopf gestülpt wurde, stellt sich den Fluss doppelt so breit vor, als er ist; er versucht zu denken, der Fluss sei ein Strom, obwohl er noch nie einen Strom gesehen hat. Der Fluss befördert wie ein grünes Fließband zwei Enten. Ob sie mit den Füßen rudern, obwohl sie weggetragen werden? Lange steht Hermann am Ufer und isst ein Stück Brot; er kaut auf der linken Seite, weil auf der rechten ein Zahn wehtut. In der Straße daheim scheint das Vogelgezwitscher aus Lautsprechern in den Autolärm gestreut zu werden; hier sind die Vögel wirklich: eine Elster wohnt im Garten. Hermann denkt, sie sammle in ihrem Nest Fünfliber, Stanniolpapier und Ohrringe.

Hermann ist bei den Großeltern in den Ferien; am Abend schlafen sie vor dem Fernsehapparat ein: die Großmutter mit zurückgelegtem, der Großvater mit gesenktem Kopf. Hermanns Mutter besitzt keinen Fernsehapparat; sie hört Radio mit Kopfhörern, während sie liest, immerzu liest. Einmal hat sie ein Blatt Papier genommen und mit blauem Filzstift in großen Buchstaben darauf geschrieben: «Ich will nicht mehr leiden, ich will nur noch überleben», und das Papier mit vier Reißnägeln neben ihrem Bett an die Wand geheftet. Einige Wochen später hat sie das Papier entfernt und ein neues angebracht, auf dem stand: «Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut.» Aber auch diesen Zettel warf sie wieder fort. Sie hat vom Erben eines Buchantiquars Bücher gekauft; sie lagerten in einer Garage, von wo Hermann und die Mutter sie mit einem Handkarren in die Wohnung brachten. Jeden Samstag verrichteten sie diese mühselige Arbeit, bis die vielen Schach­teln mit den staubigen Büchern ein Drittel des Wohnzimmers versperrten. Die Mutter und Hermann sind nun wie in einem Güterwagen eingesperrt, der auf einem Nebengleis steht, weil man vergessen hat, ihn an die Lokomotive zu hängen; die Hausfassaden hinter den Fenstern bewegen sich nicht, aber im Kopf der Mutter tanzt die ganze Welt vorbei. Hermann bleibt allein; es beißt ihn im ganzen Gesicht – das kommt vom Staub der Bücher.

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