Читать книгу Unter Schweizer Schutz. Die Rettungsaktion von Carl Lutz während des Zweiten Weltkriegs in Budapest - Zeitzeugen berichten онлайн
3 страница из 121
Unter Schweizer Schutz
Die Rettungsaktion von Carl Lutz während des Zweiten Weltkriegs in Budapest – Zeitzeugen berichten
Herausgegeben von Agnes Hirschi und Charlotte Schallié
Unter Mitarbeit von Dahlia Beck, Daniel Teichman, Daniel von Aarburg und Noga Yarmar Mit einem Beitrag von François Wisard
Übersetzungen von Lis Künzli und Barbara Linner
Limmat Verlag
Zürich
«Doch die Gesetze des Lebens sind nun einmal stärker als menschliche Paragraphen»1
Charlotte Schallié und Agnes Hirschi
«Im Frühjahr 1944, während der unbarmherzigsten Schreckensherrschaft, fand sich ein Mensch, ein Schweizer Diplomat, der sich über alle Vorschriften (sowohl der Schweiz als auch Amerikas) hinwegsetzte, der seinen Diensteid verletzte, um einem Mitmenschen zu helfen.» 2
Dieses Buch zeichnet aus der Sicht von Geretteten und Widerstandskämpfern die Rettungsaktivitäten des Schweizer Diplomaten Carl Lutz während des Zweiten Weltkriegs in Budapest nach.
Carl Robert Lutz (1895–1975) war von Januar 1942 bis März 1945 Vizekonsul und Leiter der Abteilung «Fremde Interessen der Schweizer Gesandtschaft» in Budapest. Zu seinen Aufgaben gehörte, die Schutzmacht-Interessen von vierzehn kriegführenden Staaten in Ungarn zu repräsentieren – unter anderem jene der USA und Grossbritanniens. In dieser Funktion führte Lutz bereits zu Beginn seiner Amtszeit Verhandlungen mit den ungarischen Behörden und erwirkte, dass 10 000 Palästina-Zertifikate 3 für jüdische Kinder und Jugendliche ausgestellt wurden, womit er ihnen die Auswanderung in das britische Mandatsgebiet Palästina ermöglichte. Diese erfolgreichen Verhandlungserfahrungen in Budapest waren wegweisend für den Verlauf von Lutz’ Rettungsaktion, die er nach dem Einmarsch der Wehrmacht am 19. März 1944 auf eigene Initiative in die Wege leitete. Im Anschluss an die Besetzung Ungarns wurde die jüdische Bevölkerung – mit Ausnahme der Juden und Jüdinnen in der Hauptstadt – in weniger als zwei Monaten in Ghettos verschleppt und von dort nach Auschwitz-Birkenau und in andere Vernichtungslager deportiert und ermordet. Obwohl die Deportationen im Juli 1944 weitgehend eingestellt wurden, waren die Jüdinnen und Juden in Budapest weiterhin der Gefahr von Angriffen, Erschiessungen und Todesmärschen ausgesetzt. Carl Lutz, der über den Verlauf der Deportationen informiert war, entschloss sich, umgehend zu handeln. Nach wochenlangen Verhandlungen mit dem Reichsbevollmächtigten für Ungarn, SS-Brigadeführer Edmund Veesenmayer, und SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann erreichte Lutz, dass er das, von Grossbritannien bereits bewilligte, Kontingent von 7800 Palästina-Zertifikaten an jüdische Schutzsuchende ausstellen durfte.4 Da eine Auswanderung zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich war, war Carl Lutz’ Rettungscoup einzig darauf ausgerichtet, die jüdischen Verfolgten in Budapest vor den Erschiessungen, Todesmärschen und vorangetriebenen Abtransporten in die Sammellager zu bewahren. Zu diesem Zweck entwickelte er auf eigene Verantwortung eine Rettungsstrategie, die darauf abzielte, für alle Inhaber der Palästina-Zertifikate sogenannte «Schutzbriefe» auszustellen und sie gleichzeitig in einem kollektiven Auswanderungspass – dem «Kollektivpass» – namentlich zu erfassen. Sowohl die Schutzbriefe wie auch die zwei Kollektivpässe waren mit dem offiziellen Stempel der Schweizer Gesandtschaft versehen. Um sein Vorgehen zu erklären, vertrat Lutz gegenüber den deutschen und ungarischen Behörden den Standpunkt, dass die Inhaberinnen und Inhaber der Schutzbriefe als Schweizer Bürger unter Schweizer Schutz standen und von der Vernichtungspolitik in Ungarn ausgeschlossen waren. Carl Lutz organisierte diesen grossangelegten Rettungseinsatz, der die offizielle Schweiz als Schutzmacht für die jüdische Bevölkerung auftreten liess, ohne dass er dazu von der Schweizer Regierung bevollmächtigt gewesen wäre. Die humanitäre Schutzaktion war aus der Not geboren und konnte – wie die Zeitzeugenberichte in diesem Buch nahelegen – nur mit Hilfe eines Netzwerks von zahlreichen lokalen Helfern und Verbündeten durchgeführt werden. Es war ein gefährliches Unterfangen für alle Mitakteure. Carl Lutz beschreibt diese erste Phase seiner Rettungsaktivitäten wie folgt: