Читать книгу Unter Schweizer Schutz. Die Rettungsaktion von Carl Lutz während des Zweiten Weltkriegs in Budapest - Zeitzeugen berichten онлайн
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Wie haben wir all das durchgestanden? Wie haben wir es geschafft? Wie haben wir überlebt? Und warum wurde dieser gute Mann, Arthur Weiss, verhaftet? Und warum wurden jene hundert Menschen nicht verhaftet? Und warum endeten diese tausend Menschen in Bergen-Belsen, ohne zu wissen, wohin es ging? Warum wussten sie nicht, dass der andere Zug nach Auschwitz fuhr? Sie hatten keine Angst, sie glaubten, dass es mit dieser Welt bald zu Ende sei – vielleicht werde ich einfach gehen, irgendwo wird eine Tür offen sein. Aber die Tür war nicht offen, sie führte geradewegs in die Gaskammer; es war zu spät. Da war weder Logik noch Gerechtigkeit oder irgendeine göttliche Antwort oder eine prophetische Stimme, die einen rettete. Meistens war es Glück, oder ein mutiger Akt, oder ein dummes Risiko im richtigen Moment. Wir wurden uns der Gefahr erst richtig bewusst, als sie vorbei war.
Seit 1949 bin ich in Amerika mehrfach angesprochen worden, um über den Holocaust, das Glashaus und die anderen Schutzhäuser zu erzählen. Einmal wurde ich gebeten, am Holocaust-Gedenktag in der grössten Synagoge von New Orleans über den Terror dieser Jahre zu sprechen. Es war eine grosse Menschenmenge da, Leute aus dem ganzen Süden [der USA]. Ich erklärte, wie die Schutzhäuser funktionierten, wie Carl Lutz Tausende und Abertausende von Dokumenten anfertigen liess, wie Tausende und Abertausende von Menschen mit der Identität und Staatsbürgerschaft von Ländern umherliefen, in denen sie nie gewesen sind – und wie das Glashaus um die 2000 oder 3000 Menschen rettete. Am Ende meiner Rede kam eine elegant gekleidete Dame in den Sechzigern oder frühen Siebzigern zu mir und sagte: «Herr Fabry, wissen Sie was, ich war als kleines Mädchen im Glashaus im Budapest. So habe ich mit meiner Familie überlebt. Und ich wusste nie, wem ich dafür danken konnte. Jetzt weiss ich es. Und jetzt weiss ich auch, dass ich vor diesen Offizieren in den eigenartigen Uniformen, die an der Tür standen, keine Angst zu haben brauchte. Ich dachte, sie seien dort, um uns einzusperren, und dass es für uns dort zu Ende sei, weil sie uns nicht rausliessen.» Es war Dr. Judy Roheim, eine hochangesehene Psychiaterin aus Baton Rouge, Louisiana. Und es passierte auch mehrmals bei meinen Besuchen in Budapest. Einmal sprach ich bei einem meiner Besuche in einer Radiosendung. Danach rief jemand im Hotel an und sagte: «Ich wusste nicht, dass Sie noch am Leben sind. Ich war während des Kriegs in der Ukraine Ihr Fahrer.» Ich hatte ihn angestellt, als er in einem jüdischen Arbeitslager war, ich steckte ihn in eine Uniform ohne Rangabzeichen und fuhr mit ihm bis nach Berlin. Kornai András ist heute ein erfolgreicher Geschäftsmann in Kanada. Seine Schwester in Ungarn dankte mir, dass ich ihm das Leben gerettet habe – aber eigentlich wurde er zu einem richtigen Freund und half uns beiden, an der Front zu überleben.