Читать книгу Unter Schweizer Schutz. Die Rettungsaktion von Carl Lutz während des Zweiten Weltkriegs in Budapest - Zeitzeugen berichten онлайн
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Carl Lutz war genauso in Trance wie wir alle. Es war eine chaotische Zeit, in der Übertretungen, Entscheidungen, Handlungen nicht wie üblich bewertet werden konnten, wie in der Vergangenheit, als man sich hinsetzen und sich fragen konnte: «Na, was mache ich denn nächste Woche? Wie soll ich diese Rechnung bezahlen? Wie werde ich meine Kinder unterstützen, sie erziehen?» Es war alles abstrakt. Es war alles wie in einer unwirklichen Wolke, wir arbeiteten mit einer Einstellung, die wir zu normalen Zeiten nicht für möglich gehalten hätten.
Wer nach dem 19. März 1944 in Aktion trat, wusste, dass der Krieg vorbei war. Was folgte, war eine Übergangszeit, die nur noch wenige Monate dauern konnte. Die Nazis hatten den Krieg verloren. Jeder, der eine Zeitung las oder BBC hörte – unsere Informationsquelle – wusste, dass es vorbei war. Es war nach Stalingrad; es war nach der Invasion in Frankreich; es war nach Italien; es war nach Mussolini. Jeder wusste, dass es vorbei war; die Russen waren bereits über die Karpaten und rückten nach Budapest vor. Ein neues Kapitel begann. Wir hörten die Geschütze östlich des Stadtzentrums, und wenn Bomben explodierten, wussten wir, dass die Russen anrückten. Wir hörten BBC; wir wussten, dass sie die Aussenbezirke unseres Wohnviertels besetzten. Wir zogen die Uniformen aus, verbrannten sie, und holten unsere in russischer Sprache gedruckten Schutzbriefe aus der Schublade.