Читать книгу Unter Schweizer Schutz. Die Rettungsaktion von Carl Lutz während des Zweiten Weltkriegs in Budapest - Zeitzeugen berichten онлайн
67 страница из 121
«Wir befanden uns in einem Theater»
Es herrschte eine solch spezielle Atmosphäre, ein solches Chaos, dass man sich wie in einem Theaterstück vorkam, in dem man eine Rolle zu spielen hatte. In einem Stück, das irgendwann zu Ende wäre. Und dann würdest du deine Uniform ablegen können, deinen Namen zurückbekommen, deine Persönlichkeit, und wieder du selbst sein. Bis dahin spielte ich mit. Wie viele andere.
Aber viele taten auch gar nichts. Sehen Sie, es gab drei Sorten von Menschen in der Bevölkerung. Die erste: sich den Pfeilkreuzler-Faschisten anschliessen, ungarischer Soldat werden und mit den Deutschen zusammenarbeiten. Die zweite: nichts tun und sich verstecken. Die dritte: sich dem Widerstand anschliessen.
Auch Carl Lutz spielte mit. Er hatte etwas Hypnotisches. Wir lebten alle in einem Vakuum, Zeit zählte nicht. Die Tage zählten nicht. Man wusste nicht, wo man war, was man tat. Man liess sich einfach von der Bewegung mitreissen, wie unter einem Opiat, wissen Sie. Und ich glaube, Lutz war ebenfalls in Trance, in Trance, zu helfen: immer arbeiten, nicht aufhören, weitermachen, von einem Büro zum nächsten, von einer Person zur nächsten, umgeben von verzweifelten jüdischen Menschen wie Krausz und anderen. Sie drängten ihn täglich, noch mehr zu tun: noch ein Schutzhaus eröffnen, die rumänischen Juden retten, dann die slowakischen. Der Druck war enorm. Gefahr gehörte zum Leben – vielleicht kommen sie mich heute Nacht holen, vielleicht werden sie mich an der nächsten Ecke erschiessen. Man war entweder ständig voller Angst und zitterte oder man hypnotisierte sich selbst, damit es zu einem vorübergehenden Zustand wurde; du musstest weiter zum nächsten Akt und es würde höchstens noch eine Woche oder einen Monat dauern. Der mentale Prozess der Angst war nicht so, dass ich sagen könnte, ich hatte am Mittwoch Angst und nicht am Donnerstag. Es war eine ständige Unsicherheit, versteckt hinter einer mentalen Haltung, die wir selbst zu unserem Schutz entwickelt hatten.