Читать книгу CHANGES. Berliner Festspiele 2012–2021. Formate, Digitalkultur, Identitätspolitik, Immersion, Nachhaltigkeit онлайн
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Ein großer Teil unserer Arbeit bei den Berliner Festspielen bestand in den letzten zehn Jahren im Experimentieren mit diesen institutionell verbürgten Konventionen. Künstler*innen, aber auch Programmmacher*innen veränderten das Ritual des Konzerts, der Aufführung oder Ausstellung selbst als Format. Oft entstanden neben den sich selbst entgrenzenden Werken auch ganz neue Formate, die eine eigene Autor*innenschaft besaßen. Ein Werk wie das Nationaltheater Reinickendorf von Vegard Vinge und Ida Müller ist nicht nur ein Stück oder eine Serie von Stücken, sondern eine inszenierte Welt, die Ausstellung, Konzert und Aufführung vereint und ihrerseits von Künstler*innen bespielt wurde, die dafür eingeladen wurden und in einem kuratierten Gesamtkonzept erschienen. Viele Arbeiten von Rimini Protokoll dagegen sind Formate, die theoretisch durch andere Akteur*innen wiederholbar und neu interpretierbar wären.
Die Tendenz, dass die Attraktivität von Veranstaltungen heute oft von Formaten ausgeht, die in ihrer Wirkung die Werke überstrahlen, ist meiner Erfahrung nach die eigentliche Verschiebung im Kunstsystem der letzten 20 oder 25 Jahre. Die Tendenz vom Werk zum Format ist eine, die andere Gewichtungen schafft und die primäre Welt der Werke gelegentlich in den Schatten stellt. Wirklich gute Formate, die nicht nur eine These verfolgen, sondern auch ihr angemessene Wahrnehmungssituationen schaffen, sind Glücksfälle – in ihnen kristallisieren sich Erlebniswelten aus, die spezifische Werkaspekte in Atmosphären übersetzen und für sie neue Verortungen schaffen. Sie erzeugen die Unruhe der Erfahrung von etwas Neuem und von oft ungeahnten Verbindungen zu anderen Feldern der Kunst, der Nichtkunst, anderen Milieus und Generationen. Sich mit Formaten zu beschäftigen, heißt, Rahmungen zu lesen, eine Metaerzählung zu genießen, unabhängig vom Geschmack am einzelnen Werk. Man kann dies als Vorteil dieser Verschiebung vom Werk zum Format empfinden, aber auch als Gefahr. Auf diese Verschiebung zu achten, ist noch eine relativ junge Beschäftigung. Traditionell wird vor allem auf Werke geachtet. Doch nun wächst sowohl auf der Werkebene, also dem singulären Ereignis, als auch auf der Veranstaltungsebene ein kuratorischer Gestus heran, der diese intentionalen Sammelbecken diverser Werke hervorbringt, die als übergeordnete Fassung selbst eine Erzählung bilden.