Читать книгу CHANGES. Berliner Festspiele 2012–2021. Formate, Digitalkultur, Identitätspolitik, Immersion, Nachhaltigkeit онлайн
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Auch jede Interpretation alter Stücke schafft etwas Neues. Das gilt für Werke genauso wie für Formate. Jede Interpretation bezieht ihre Relevanz aus der Abweichung von anderen Gesten der Wiederholung. In der Klassik, ähnlich auch im Jazz, zielt die Anstrengung darauf, das Gleiche immer wieder anders zu hören und trotzdem als die Erfahrung einer erfüllten Begegnung mit dem Original. In der Regel tritt das Format in der Welt der Interpretationen völlig hinter das Werk zurück und wird nur auffällig, wenn eine Aufführung 30 Stunden dauert oder in einem Saal mit vier Bühnen stattfindet.
Vielleicht wird es irgendwann in der Kunst- und Theaterwissenschaft „Formatstudien“ geben, die uns den Werkcharakter der institutionellen und auch der vergänglichen Formate aufmerksamer lesen und verstehen lehren. Sie könnten eine eigene Forschungs- und Sensibilisierungsschule für diese Sprache des Formats oder jener Werke sein, die selber die Form kuratierter Agglomerationen angenommen haben. Formate sind eben auch eine Software – sie programmieren Ideen in der Hardware von Institutionen, um neue Erlebnis- und Kongruenzerfahrungen zu schaffen. Was spielt mit wem zusammen, und wofür steht das? Wie viele Perspektiven auf eine Fragestellung muss ich einnehmen, um ein Thema oder Œuvre nicht eindimensional und ideologisch zu behandeln? Wie organisiere ich die „Luft“ zwischen den Phänomenen, den Freiraum, den Entdeckungen brauchen, um nicht nur These zu bleiben? Wie öffne ich diese Sendestrukturen für das Feedback unterschiedlichster Akteur*innen und Communities? Fast jedes temporäre Format organisiert dafür Regeln, die sich von den institutionellen Standards oft deutlich unterscheiden, aber wir achten nicht auf diese Regeln oder Umstände, und im Grunde ist das auch sehr gut, denn es geht ja nicht wirklich um die Formate, sondern das, was drin ist in diesen Containern. Die Formate sind Instrumente – sie sind, in einem bescheidenen Sinne, die erweiterten Medien der Werke. Als William S. Burroughs mit David Bowie über die Lyrics seiner Songs sprach, fragte er ihn, ob er glaube, dass seine Fans diese anspruchsvollen Gedichte wirklich verstehen würden. Worauf Bowie erwiderte, oh nein, er glaube das nicht, sie hören wahrscheinlich „nur“ das Medium. Und so ist es mit dem Format auch – oft hören wir nur die „Musik“.