Читать книгу CHANGES. Berliner Festspiele 2012–2021. Formate, Digitalkultur, Identitätspolitik, Immersion, Nachhaltigkeit онлайн

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Der Kern des temporären Formats ist sein Erlebnisversprechen bei gleichzeitigem Erwartungsbruch – es liberalisiert und verändert die für Institutionen typischen Formen der Aufführung, Ausstellung oder Konzerte. Temporäre Formate vermitteln oft exklusivere Inhalte als die traditionellen Formate der Institutionen, die im Laufe der Zeit eine enorme Fülle unterschiedlicher Werke aufnehmen können, alte genauso wie aktuelle. Trotzdem treten die neuen, temporären Formate stets mit dem Gestus der Öffnung und Liberalisierung auf, und dieses Formatparadox fällt nur auf, solange das neue Format noch überraschend ist. Sobald seine Form vertraut geworden ist, vermittelt sie genügend Sicherheit, um die Werke wirken zu lassen und sich selbst wieder weitestgehend zum Verschwinden zu bringen.

Temporäre Formate unterscheiden sich von den institutionellen Begleitformaten kanonischer Werke, zum Beispiel Publikumsdiskussionen oder Matineen, vor allem durch ihre eigenständige Erzählung – temporäre Formate dienen nicht anderen Werken, sondern abstrahieren sie und bilden autonome Erlebniswelten. Daher stehen sie oft in einem intuitiven Gegensatz zu den Veranstaltungsformen klassischer Institutionen, die die Besuchenden über Jahrhunderte hinweg sanft erzogen haben. Institutionelle Rituale lehren uns, kein Foto während der Aufführung zu machen und so werden wir langsam einverstanden mit der Institution und ihrem Platz in der Welt, weil sie Genuss und Privilegien beschert. Während die traditionellen Veranstaltungsformen wie Aufführung oder Ausstellung auf Disziplinierung beruhen, beruhen viele experimentellen Formate auf Kontrolle – wir können kommen und gehen, manchmal auch mitmachen, aber nur, wenn wir in die Welt eintreten, die uns scannt. Temporäre Formate liberalisieren den Zugang, sie erzeugen ein Vergleichen und Besprechen, aber sie drängen sich auch mehr auf – sie zeigen stärker mit dem Finger auf sich und ihre These und Leistungen. Formate sind Neugierplattformen, die auf ihr Publikum deshalb stärker einwirken als klassische Rituale, weil sie stärker sein Feedback suchen.


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