Читать книгу CHANGES. Berliner Festspiele 2012–2021. Formate, Digitalkultur, Identitätspolitik, Immersion, Nachhaltigkeit онлайн
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Wir sind natürlich in Berlin, und zwar beim Finale von MaerzMusik, einem jährlichen Bacchanal klanglicher Extreme unter der Schirmherrschaft der Berliner Festspiele. Die diesjährige Ausgabe wurde ausschließlich online gestreamt, wodurch man sie im bequemen Alltagsumfeld des amerikanischen Zuhauses rezipieren konnte. Wie in Europa üblich, gab es eine imposante, wenngleich vage Leitidee: „Zeitfragen“. Der Schwerpunkt des Programms lag auf Erfahrungen, die über konventionelle Zeitrahmen hinauswuchern und das Bewusstsein überfluten. Das eindrücklichste Beispiel hierfür lieferte Éliane Radigues Trilogie de la Mort (1988–1993), eine dreistündige Klanglandschaft aus düster-hypnotischem Elektrogedröhne, das sich wie ein unentzifferbares, der Zeit entrücktes Monument anfühlte.
Doch MaerzMusik hatte mehr zu bieten als die Flucht aus ästhetischen Normen. Bei einem solch hochkarätigen und auskömmlich finanzierten Festival wie diesem wird die Zeit zu einer politischen Frage: Wer kommt zu Wort und wie lange? Auch im europäischen Kulturraum wird die lange Zeit unbestrittene Dominanz der weißen, männlichen Perspektive hinterfragt – fast ebenso stark wie in Amerika. Und so hat das von Kurator Berno Odo Polzer geleitete Festival MaerzMusik sich deutlich von den üblichen Verdächtigen abgewendet. Stattdessen war der afroamerikanische Komponist und Wissenschaftler George E. Lewis eingeladen, ein Konzert zu organisieren, das Schwarzen Komponist*innen gewidmet ist. Mehrere Veranstaltungen würdigten den vielseitigen ägyptisch-amerikanischen Komponisten Halim El-Dabh, der 2017 im Alter von sechsundneunzig Jahren verstarb. Zwei Berliner Experimentalgruppen, PHØNIX16 und noiserkroiser, präsentierten einen Multimedia-Abend in Zusammenarbeit mit dem Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos, einem bolivianischen Ensemble, das traditionelle Instrumente aus den Anden in neue Kontexte überführt.