Читать книгу CHANGES. Berliner Festspiele 2012–2021. Formate, Digitalkultur, Identitätspolitik, Immersion, Nachhaltigkeit онлайн
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Inmitten der allgemeinen Tendenz zur Ad-libitum-Ekstase bei MaerzMusik – die Veranstaltung mit dem Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos schwoll zu einem beeindruckend apokalyptischen Getöse an – bot die Uraufführung von Jürg Freys Streichquartett Nr. 4 eine Oase der konzentrierten Stille. Frey, der aus Aarau in der Schweiz stammt – etwa fünfundvierzig Meilen von Cox’ Heimatstadt Biel entfernt –, schreibt Kammermusik, die dort anzuknüpfen scheint, wo Schostakowitsch aufgehört hat: in einem Bereich, in dem die romantischen Harmonien zu schönen, halbverschütteten Ruinen verkommen sind. Das Streichquartett Nr. 4 ist besonders aufgrund seiner Coda bemerkenswert, in der ein weiches, tiefes Cis mehr als hundert Mal wie eine gedämpfte Uhr auf dem Cello gezupft wird, während Geigen und Bratsche nach geisterhaften Akkorden greifen.
Das epische Finale des Festivals, die Zeitansage, bot ganz eigene umnebelnde Freuden. Mit dem Titel TIMEPIECE knüpfte es an Ablingers Werk TIM Song von 2012 an. In der ersten Stunde trat Lewis selbst als Rezitator auf; einige Stunden später begleitete das Quatuor Bozzini die Rezitator*innen mit Michael Oesterles Consolations, das der Stimmung nach Freys Quartett nicht unähnlich ist. Weit nach Mitternacht übernahm dann die irische Komponistin und Performerin Jennifer Walshe die Sendung und sorgte, ganz nach ihrer Gewohnheit, für Verwirrung. Sie stellte auf die Dublin-Zeit um, die seit 1916 nicht mehr gilt, und wich mit Ansagen wie „Beim dritten Glockenschlag wird es arsch Uhr sein“ vom Drehbuch ab. Vor allem aber war es faszinierend, die Uhrzeit in so vielen Sprachen zu hören – eine Vielfalt, die von der Weltoffenheit Berlins zeugt. Dem deutschen Philosophen Johann Gottfried Herder zufolge sollten die verschiedenen Kulturen der Welt auf ihre Eigenheiten stolz sein und gleichzeitig nach einer höheren Wahrheit in der gemeinsamen Menschlichkeit suchen. Für ungefähr einen Tag schien diese Utopie Wirklichkeit zu werden, denn die Menschen vieler Nationen waren sich zumindest in einem Punkt einig: der Zeit.