Читать книгу Handbuch der Poetik, Band 1. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Dichtkunst онлайн

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Fußnoten:


1 Vgl. Herder: "Stimmen der Völker in Liedern" und "Des Knaben Wunderhorn", bearbeitet von Birlinger und Crecelius.

2 Die Musik an und für sich, μουσικὴ ψιλή, bloße Musik, also die instrumentale oder auch die vokale, sofern dieselbe selbständig, ohne Worte, auftritt, vermag freilich Empfindungen zunächst nicht nachzuahmen, weil der Empfindungsvorgang jedes Mal ein einzelner und demgemäß an bestimmte einzelne Umstände geknüpft ist, welche der Musik schlechthin undarstellbar sind. Dagegen hat sie die Nachahmung des Ethos völlig in ihrer Macht. Während die einfache Empfindung eines bestimmten, in einer fest begrenzten Situation befindlichen oder doch gedachten, Objektes bedarf, um sich zu verwirklichen, ist das Ethos an und für sich dauernd vorhanden, und statt dass die ihm entsprechenden Seelenvorgänge der Objekte bedürften, um in Tätigkeit zu gelangen, sind sie vielmehr imstande, durch ihre eigene Kraft jene in der Vorstellung hervorzubringen! Hier genügt also jene oben erwähnte geheimnisvolle Analogie zwischen den äußeren Bewegungen, Rhythmen und Klängen vollauf um die Nachahmung zu erreichen, und so entfaltet die Musik auf diesem unbegrenzten Gebiete ihre ganze, gewaltige Macht, unendlich weit hinaus über das, was Worte vermögen, die Stimmungen und Gemütszustände zu erregen, zu erhöhen, sie gegenseitig sich bekämpfen, sich komplizieren, sich ausgleichen und verschmelzen, mit einem Worte sich voll ausleben zu lassen mit einer Kraft und Tiefe, Mannigfaltigkeit und Fülle, und wieder mit einer Zartheit und Verfeinerung, welche nicht allein den Worten, sondern auch den Begriffen unerreichbar und unfassbar sind. Hier zeigt es sich nun aber, wie das, was vorhin in betreff der Nachahmung von Empfindungen aufgegeben werden musste, nun zu einem höchst wesentlichen Teile wieder einzuholen ist. Es wurde oben von dem auf bestimmten Anlass sich ereignenden Empfindungsvorgang die in der Seele dazu als Kraft, Vermögen vorhandene präexistierende Disposition (δύναμις) unterschieden; diese bloße Dynamis des betreffenden Pathos bedarf nun keineswegs der Erzählung eines Vorganges oder der Darstellung einer Situation, welche die individuell begrenzte Erregungsursache abgeben, sondern sie kann, genau wie das Ethos, dauernd vorhanden sein und vermag aus sich heraus die Vorstellung der ihr entsprechenden Objekte anzuregen. Solche Empfindungsdispositionen (δυνάμεις) kann daher die Musik, vermöge jener erwähnten Analogie der Rhythmen und Klänge mit den Seelenbewegungen, ganz unmittelbar und in höchster Intensität, wie keine andere Kunst, weil dies ihr eigentliches Gebiet ist (οἰκεῖον ἔργον), nachahmen und durch die Nachahmung bei dem Hörer wiederum erwecken. So bringt also die Musik, wie das Materielle und "praktisch" Geschehene für sie ja völlig undarstellbar ist, die Empfindungs-Dispositionen ganz unsubstantiiert hervor; der Hörer kann es dabei bewenden lassen und den künstlerischen Genuss, die Hedone, in dieser allgemeinen Energie seines Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögens (τῆς αἰσθήσεως) finden: es ist ihm aber unbenommen, diese allgemeine Disposition, welche durch die Nachahmung der Musik in ihm hervorgebracht wird, zu substanziieren, in einer nach seinen individuellen Verhältnissen ins Einzelne gehenden Weise in Tätigkeit zu setzen, d. h. also zu einer nun erst bestimmt modifizierten Empfindung werden zu lassen. Das wird umso mehr geschehen, je mehr Zeit, Umgebung, Umstände, Anlässe ihn direkt darauf hinweisen, wie z. B. in Kultus, Festfeier, beim Drama (als Ouvertüre, Zwischenmusik) u. s. w. Es ist diese Operation zum vollen Genuss der "reinen" Musik keineswegs erforderlich; auch wäre es ein Missverständnis zu glauben, dass mit dieser Einschränkung der musikalischen Wirkung auf die allgemeinen Gefühls-Dispositionen ihre Bedeutung herabgesetzt würde. Ganz im Gegenteil ist jene Operation etwas Akzidentielles, die Wesenheit der Musik liegt nicht auf diesem Gebiet: die Musik leistet das Höchste der Kunst, wenn sie mit ihren Mitteln, und also nach ihren eigenen autonomen Gesetzen, in und mit der Nachahmung einer solchen "Empfindungsdisposition" der Seele nach der betreffenden Richtung den Genuss ihrer höchsten Kraft und die reichste und doch zugleich gesetzmäßige Bewegung verleiht, sei diese Bewegung nun eine einheitliche oder in Streit und Sieg, Gegensatz und Ausgleich sich vollziehende. Ob daraus nun im wirklichen Leben auch für den gegebenen Anlass ein erhöhtes Empfinden und weiter ein entsprechendes Handeln hervorgeht, ist nicht die Sache der Musik, wie überhaupt nicht die der Kunst, die überall nur imstande ist, was sie auch allein nur will, die Seele mit dem Genuss und dem Bewusstsein eines Maximums ihres Vermögens zu erfüllen. Wenn nun aber die reine Musik doch die Möglichkeit gewährt, die nachgeahmte Empfindungsdisposition individuell zu substanziieren, so erklärt sich daraus die Fähigkeit und die Neigung der Musik sich dem Worte zu gesellen. Freilich liegt darin offenbar eine Beschränkung, die umso größer ist, je singulärer die im Texte ausgesprochene Empfindung ist, woraus weiter folgt, dass die edelste Vokalmusik sich gerade an die Texte vom allgemeinsten Empfindungsgehalt anschließen wird, wie z. B. die Kirchenmusik. Je spezieller der Text ist, desto mehr verengert sich das unbegrenzte Gebiet der Dynamis des betreffenden Pathos, das alle Fälle ihrer Möglichkeit nach umfasst, auf einen besonderen Bezirk oder gar nur einen einzelnen Fall. Umgekehrt erklärt sich hieraus der weite Spielraum in der sogenannten Deutung der reinen Musik! Es sind aber viele solche "Deutungen", oder richtiger individuelle Substantiierungen durchaus zulässig, sofern sie nur derselben allgemeineren Empfindungs- Disposition angehören, was bei scheinbar höchst verschiedenen Deutungen sehr wohl der Fall sein kann. Freilich kommt dabei der ganz unberechenbare Faktor der in jedem Falle urteilenden Individualität ins Spiel.

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