Читать книгу Handbuch der Poetik, Band 1. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Dichtkunst онлайн

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Die andre Ballade ist das aus zwei Liedern bestehende, scheinbar so ganz epische Stück "Die Chevy-Jagd", von welchem Herder in den vorangeschickten "Zeugnissen über Volkslieder" das Wort Philipp Sidneys anführt: "Nie hörte Ich den alten Gesang: ‚Percy und Douglas‘, ohne dass Ich mein Herz von mehr als Trompetenklang gerührt fand." Obwohl darin von Anfang bis zu Ende erzählt wird, so ist die Erzählung doch von Anfang bis zu Ende ausschließlich durch den Liedzweck bestimmt und diesem untergeordnet; nirgends will sie für sich selbst gelten, wie im Epos durchweg. Demgemäß verfährt sie auch nur andeutend, gleichsam alles von sich wegweisend, was nicht dazu dient die doppelte Stimmung, die den Sänger beherrscht, den Zuhörern mitzuteilen: die unbezähmbar vordrängende Lust am Streit und Kampf der von Uralters her feindlichen Grenznachbarn, "wie das Necken Zorn ward", und dann die tieftraurige Klage über das geschehene Unheil, diese das Ganze durchdringend und beherrschend. Daher ganz konsequent auch die Darstellung in zwei "Sätzen", wie man in Analogie der musikalischen Form fast sagen möchte. In dem ersten die ungeduldig und ungestüm hervorbrechende altenglisch-schottische Streitlust und Kampfbegier, doch schon hier der Vordersatz des Hauptthemas: "Das Kind wehklagt's noch ungebor'n! Es ward sehr jammrig noch"; in dem zweiten Liede dann die entfesselte Wut des Wechselmordens und die Trauer über das nutzlos vergossene edle Blut: "Sie hoben einander auf, und stehen konnt' mancher, mancher nicht." "Das Kind wehklagt's noch ungebor'n, die Jammerklaggeschicht'!" Es geschieht ja in dieser Ballade sehr viel, aber der springende Punkt des Darstellungsinteresses (das τέλος μιμήσεως) liegt nicht in der Mitteilung des historischen Ereignisses — wie in den Homerischen Gesängen Taten und Kämpfe um ihrer selbst willen und um des Anteils der einzelnen Helden willen vorgetragen werden —, sondern in der Verkörperung der Sinnesart, die der Epoche den Charakter verlieh und die in der Geschichte der feindlichen Nachbarvölker eine so verhängnisvolle Rolle spielt. Alles einzelne und individuelle hat die Sage und der Volksgesang diesem ethischen Interesse — dem Liedzwecke — mit wahrhaft staunenswerter Kunst entweder ganz geopfert oder doch dienstbar gemacht.

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