Читать книгу Handbuch der Poetik, Band 1. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Dichtkunst онлайн

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Ist das Reich der Poesie ein innerlich viel weiteres, ja universelles, so ist die Wirkung der Architektur dafür desto unmittelbarer, weil sie ganz sinnlich ist, während jene sich an die Vorstellungskraft wenden muss. Mit stiller Gewalt bemächtigt sie sich der Seele des willig hingegebenen Beschauers und in ihren größten Hervorbringungen hat sie die Macht ihn ungeteilt mit dem einen Ethos zu erfüllen, das sie in unvermischter Reinheit darstellt, oder doch, wo sie sich geringere Ziele steckt, vermag sie unmerklich das gesamte Fühlen und Sinnen in den Bann der durch sie verkörperten ethischen Haltung zu ziehen.

Auch hier kann die Poesie nachfolgen; wie sie malerische Formen sich dienstbar zu machen vermag, so kann sie auch architektonische Gebilde in ihren Bereich ziehen, freilich nur Vorstellungen davon, welche immer der Kraft sinnlicher Wirkungen nachstehen werden. Aber was hier verloren gegeben werden muss, weiß der Dichter durch den richtigen Gebrauch seiner Mittel auf einer anderen Seite einzubringen. Der bildende Künstler hängt mit seiner Wirkung ganz von der Empfänglichkeit des Beschauers ab, dieser muss die stummen Züge in sich lebendig werden lassen, sie reden die Sprache, die er aus ihnen zu vernehmen vermag; der Dichter hingegen begleitet die Vorstellungen, die er hervorruft, mit dem beredtesten Ausdruck der Empfindung, des Ethos, die ihn selbst beleben; ihre ganze Kraft, ihren ganzen Reichtum, die ganze Gedankenwelt, die, an tausend Fäden sich anknüpfend, um den durch sie gegebenen Mittelpunkt aufsteigt, überträgt er durch die Zaubermacht des dichterischen Wortes in die Seelen der Hörer, die durch ihn zu erhöhtem Leben erweckt, nun auch der Natur selbst und den Werken der bildenden Künste mit aufgeschlossenem Sinn, mit bereiterem Empfangen gegenübertreten. Ein unvergleichliches Beispiel derart ist Goethes "Wanderer".

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