Читать книгу Handbuch der Poetik, Band 1. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Dichtkunst онлайн

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Unter sich sind sie nun aber sehr verschieden. Es ist etwas ganz anderes, ob durch einen bewegenden Anlass die einfachen Empfindungen, wie Liebe, Hass, Furcht, Mitleid, Zorn, Neid u. s. w., in der Seele hervorgerufen werden, sei es, dass sie durch besonders starke Erschütterung plötzlich hervorbrechen, sei es, dass die Neigung und das Vermögen dazu (δύναμις) durch individuelle Anlage in der Seele schon vorhanden ist, oder ob durch öfters wiederholtes Gewährenlassen oder Zügeln einer einzelnen solchen Empfindung oder mehrerer ihrer Natur nach leicht zu einem Komplex sich vereinender, sich eine mehr oder minder dauernde Gewöhnung herausbildet, welche dem Individuum ein eigenartiges Gepräge verleiht. Für "Ethos" in diesem Sinne, für die Bezeichnung also der dem Einzelnen sowohl als ganzen Nationen eigenen, besonders hervorstechenden, Gemütsbeschaffenheit lieben wir Modernen den andern griechischen Ausdruck "Charakter" anzuwenden; so sprechen wir von der leidenschaftlichen Empfindungsenergie des altjüdischen Volkes, die seine religiöse Lyrik auszeichnet, von dem Schönheitssinn der Griechen und dem nüchtern scharfsinnigen Realismus der Römer, von der Kampfesfreudigkeit der alten Deutschen und der Ruhmsucht der Gallier, vom Phlegma des Holländers und der phantastischen Hitzköpfigkeit des Jren. Überall aber handelt es sich dabei keineswegs um ein Urteil über die moralische Handlungsweise der Nationen, sondern um eine in Volksart, Wohnplätzen, Klima und Geschichte begründete, typisch ausgeprägte Art sich geistig zu verhalten — ein Ethos!

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