Читать книгу Handbuch der Poetik, Band 1. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Dichtkunst онлайн

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Bürger stellt den Gegenstand unter einem veränderten Gesichtspunkt dar; die Übergewalt der Liebe kehrt sich über den Verlust des Geliebten in Verzweiflung, die mit Gott und der Vorsehung hadert, die Entführung durch den Geist des Bräutigams und der Tod Lenores erscheinen dann gewissermaßen als göttliches Strafgericht. Darauf deutet der moralisierende Schlussgesang, den das im Mondenschein tanzende Geistergesindel als Hochzeitslied "heult": "Geduld! Geduld! wenn's Herz auch bricht! Mit Gott im Himmel hadre nicht! Des Leibes bist du ledig; Gott sei der Seele gnädig!" Und doch hat es der Dichter nicht vermocht den Sturm in der Seele seiner Heldin in der Handlung selbst zu verkörpern, sondern er greift zu dem poetisch weit unwirksameren Mittel ihn geradehin zu beschreiben, wobei die Mattigkeit des Verfahrens durch das Exzessive des Ausdrucks aufgewogen werden soll. Die Handlung selbst aber behält, trotz der Dekorationskunst, die darauf gewandt ist das Zwielicht des Geisterreiches herzustellen, den Charakter eines von außen hereinbrechenden Ereignisses, bei welchem die innerlich allein Beteiligte sich passiv, ja zögernd und halb widerwillig verhält, während der Vollzug der Aktion ganz ohne innere Motivierung dem Gespenste des toten Bräutigams und dem gräulich spukhaften Geistergesindel von Kirchhof und Hochgericht zufällt. Soll darin eine Symbolik gefunden werden — und wie anders erhält der ganze Vorgang überhaupt irgendeine Bedeutung? — so kann es nur diese sein: die tödliche Wirkung des "in Gehirn und Adern wütenden" Fieberparoxysmus; ein singulärer und noch dazu hässlich pathologischer Vorgang, statt, wie in "Wilhelms Geist," der Offenbarung kraftvollster und zugleich zartester Gemütsart, die, obwohl im einzelnen Falle vergegenwärtigt, doch in typischer Allgemeinheit die Macht der Kräfte verkündet, deren das menschliche Herz fähig ist.

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