Читать книгу Handbuch der Poetik, Band 1. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Dichtkunst онлайн

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Fernweg, hin über'm Meer!

Es ist mein Geist nur, Gretchen,

Der hier kommt zu dir her."


Ausstreckt sie ihre Lilienhand,

Streckt eilig sie ihm zu:

"Da nimm dein Treuwort, Wilhelm,

Und geh und geh zur Ruh!"


Nun hat sie geworfen die Kleider an,

Ein Stück hin unter das Knie,

Und all die lange Winternacht

Ging nach dem Geiste sie.


"Ist Raum noch, Wilhelm, dir zu Haupt

Oder Raum zu Füßen dir?

Oder Raum noch, Wilhelm, dir zur Seit',

Dass ein Ich schlüpf' zu dir?"


"Kein Raum ist, Gretchen, mir zu Haupt,

Zu Füßen und überall,

Kein Raum zur Seit' mir, Gretchen,

Mein Sarg ist eng und schmal."


Da kräht der Hahn, da schlug die Uhr,

Da brach der Morgen für:

"Ist Zeit, ist Zeit nun, Gretchen,

Zu scheiden weg von dir!"


Nicht mehr der Geist zu Gretchen sprach,

Und ächzend tief darein,

Schwand er in Nacht und Nebel hin

Und ließ sie steh'n allein.


"O bleib', mein ein Treulieber, bleib',

Dein Gretchen ruft dir nach" —

Die Wange blass, ersank ihr Leib

Und sanft ihr Auge brach.


Nicht allein, dass hier vermieden ist, was in Bürgers "Lenore" so sehr verletzt: die Rohheit des Ausdrucks und die maßlose Heftigkeit in den Äußerungen des Schmerzes, welche statt den Seelenadel starker Empfindungen zu bekunden, vielmehr die Vorstellung der Ungebärdigkeit einer vulgären Natur hervorrufen; der Grund, warum die alte schottische Ballade so hoch über der modernen deutschen steht, liegt tiefer. In jener ist, wie in allen den herrlichen alten Stücken derart, die visionäre Handlung wie die Schilderung der Körperwelt auf das strengste und diskreteste lediglich nur als Darstellungsmittel des überwältigenden Gemütszustandes verwendet; daher hält sich beides so glücklich und sicher in den Grenzen der einfachen Wahrheit und Natur. Man kann die Dichtung als eine symbolische auffassen, wenn man, im Goetheschen Sinne, darunter eben nur versteht, dass ein Höheres, Allgemeines, Abstraktes durch ein Einzelnes, Konkretes vergegenwärtigt wird; ein jeder Zug der im Liede verwandten Handlung erweist sich unter diesem Gesichtspunkte als von dem Liedeszweck gefordert und für denselben bedeutsam, keiner ist überflüssig oder durch irgendein anderes Interesse eingegeben und bedingt. Ganz ist der Vorgang in die Seele des liebenden Mädchens gelegt; von Seiten des toten Geliebten geschieht nichts, als was eben nur die Konsequenzen des Faktums seines Todes versinnlicht. In der Nacht erscheint sein Geist der sehnenden Braut, durch seinen Tod ist das Band der Treue gelöst, er fordert das Wort zurück, das er nicht einlösen kann; doch will sie von der Treue nicht lassen, und das Wort, das sie endlich dem irrenden Geiste, um ihm die Ruhe im Grabe zu gewähren, zurückgibt, behält für sie selbst die bindende Kraft; der Tote weigert ihr die Vereinigung und mit dem Morgengrauen schwindet die Erscheinung dahin; die Sehnsucht nach dem einzig und für immer Erwählten raubt auch ihr das Leben: "O bleib', mein ein Treulieber, bleib', dein Gretchen ruft dir nach" — "Die Wange blass, ersank ihr Leib, Und sanft ihr Auge brach."

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