Читать книгу Handbuch der Poetik, Band 1. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Dichtkunst онлайн

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.... "Alles muss indessen innerhalb seiner Grenzen, aus seinen Mitteln und seinen Zwecken beurteilt werden. Keine Pindarische Ode also als eine Epopöe, der das Fortschreitende fehle; kein Lied als ein Bild, dem der Umriss mangele; kein Lehrgedicht als eine Fabel und kein Fabelgedicht als beschreibende Poesie."

.... "Ich zittre vor dem Blutbade, das die Sätze: ‚Handlungen sind die eigentlichen Gegenstände der Poesie; Poesie schildert Körper, aber nur andeutungsweise durch Handlungen, jede Sache nur mit einem Zuge‘ u. s. w. unter alten und neuen Poeten anrichten müssen. Herr Lessing hätte nicht bekennen dürfen, dass ihn die Praxis Homers darauf gebracht; man sieht es einem jeden beinahe an, und kaum — kaum bleibt der einige Homer alsdann Dichter. Von Tyrtäus bis Gleim und von Gleim wieder nach Anakreon zurück, von Ossian zu Milton und von Klopstock zu Virgil wird aufgeräumt — erschreckliche Lücke! der dogmatischen, der malenden, der Idyllendichter nicht zu gedenken."

Nach seiner Weise lässt Herder hier der stürmischen Rhetorik den Vorrang vor der festgegründeten Beweisführung. Aber was soll dieser siegenden Beredsamkeit gegenüber ein Einwand wie der Blümners, der nicht einmal ein halber Einwand ist: "Für Lessing handelte es sich ja im Laokoon gar nicht um die Lyrik, sondern vornehmlich um das Epos; dann aber darf man nicht vergessen, dass ja auch jede Bewegung des Gemüts — und diese sind doch der Gegenstand der Lyrik — eine Handlung ist!"9 Lessing exemplifiziert vom Epos, aber er macht Gesetze für die gesamte Poesie: und Lessing sagt in den Fabelabhandlungen keineswegs, dass "jede Bewegung des Gemütes eine Handlung sei", was sehr unrichtig wäre, sondern er behauptet das von "jedem inneren Kampf von Leidenschaften, jeder Folge von Gedanken, wo eine die andere aufhebt", was etwas ganz Verschiedenes ist. Eine jede "Bewegung" des Gemütes (affectus, πάθος) ist ein Veränderungsvorgang im Vergleich zur völligen Ruhe oder zu einer andern, vorangehenden Erregung; doch kann er als solcher nun durchaus einheitlich, stationär und kontinuierlich sein. Das wesentlich charakterisierende Moment der Handlung, die Folge von "Gegenständen" oder Veränderungen haftet der "Bewegung" des Gemütes als solcher keineswegs an; die einzelne Gemütserregung oder Bewegung für sich steht vielmehr zu dem Begriff der Handlung in demselben Gegensatze wie die einfachen Teile zu dem Begriff des zusammengesetzten Ganzen. Erst aus dem "inneren Kampf der Leidenschaften", erst aus "der Folge der Gedanken" und aus dem Zusammenstoße beider, wo sie abwechseln und "einander gegenseitig aufheben", entsteht das, was Lessing als geistige Handlung mit vollstem Rechte bezeichnet.

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