Читать книгу Handbuch der Poetik, Band 1. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Dichtkunst онлайн

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Es springt in die Augen, dass diese Auffassung der dichterischen Aufgabe vornehmlich vom Epos und vom Drama abstrahiert ist; es ist zu untersuchen, ob und inwieweit die Lyrik darin Platz findet. Zuvor aber muss hier eine wesentliche Unterscheidung gemacht werden, die für den ganzen Fortgang der Untersuchung von großer Wichtigkeit ist. Der deutsche Sprachgebrauch — und ebenso der griechische — verwendet das Wort "Handlung" — πρᾶξις — in zwei scharf voneinander zu trennenden Bedeutungen: man kann die eine bezeichnen als den äußeren, uneigentlichen Begriff der Handlung, die andere als den eigentlichen, inneren Begriff derselben.

Was ist das Wesentliche, ausschließlich Eigenartige in der Geschichte des Mucius Scävola, also die eigentliche Handlung desselben? Dass ein für die Freiheit begeisterter Jüngling ausgeht, um einen Tyrannen, einen übermütigen Bedränger des Vaterlandes zu töten, dass er, gleichviel ob die Tat gelingt oder nicht, freudig allen Martern Trotz bietet, alles dieses hat die Geschichte des Mucius Scävola mit vielen andern gemein; was ihr vor allen andern das eigentümliche Gepräge verleiht, ihre Bedeutung nicht allein für unser Interesse, sondern auch an sich, was das Entscheidende für ihren Verlauf bildet, das ist die eigenartige, durch den Moment eingegebene Handlung des Mucius, der blitzartig in ihm auftauchende Entschluss, durch selbstgewählte, lächelnd ertragene Qual eine überwältigende Probe todesverachtenden Freiheitsmutes zu geben. Trotzdem diese Entschließung nicht anders als aus dem Augenblick geboren gedacht werden kann, so ist doch gerade sie es, welche die einzige Mischung aus Enthusiasmus und Klugheit, aus hochgemutem Stolz und schlauer Berechnung, völlig bezeichnet, welche nicht allein diesen Mann charakterisiert, sondern welche auch ein wesentlicher Zug des römischen Nationaltypus ist. Und wie diese Entschließung im Augenblick gefasst ist, so genügt auch zu ihrer Ausführung ein einziger Moment, so kann sie in einem einzigen Bilde verkörpert durch die Malerei dargestellt werden. Diese Handlung ist keine Folge von Gegenständen, keine Reihe von Veränderungen, sie ist schlechterdings ein einziger Veränderungsvorgang und als solcher für die bildende Kunst unbedingt geeignet. Sobald dieselbe jenes innerste, eigentliche Handlungsmoment erfasst, so hört damit der Gegenstand auch auf eine "kollektive" Handlung zu sein, "welche unter mehrere Körper verteilt ist" (vgl. Lessing [H.] a. a. O. S. 295; Blümner S. 444), zu welcher Gattung er nach Lessing gerechnet werden müsste. Die Handlung fällt vielmehr in diesem Sinne ganz und gar der Hauptperson zu und wird zur "einfachen", so dass durch ihre, im Ausdruck vollendete Darstellung genug geschieht, um die Phantasie zur Vorstellung des ergänzenden Vorganges zu erregen, gerade so wie Torwaldsens Argustöter im höchsten Grade wirksam ist, gerade weil das Ungetüm, dem seine bezaubernde Arglist und sein vernichtender Streich gelten, und dessen Ausprägung uns als gleichgültig nur stören würde, fortgelassen ist. Ja noch mehr! Was einer solchen Handlung das eigentliche Interesse verleiht, um dessentwillen sie überhaupt ein Gegenstand künstlerischer Darstellung wird, ist im letzten und tiefsten Grunde auch nicht einmal so sehr die Aktion selbst, als vielmehr die Charakterbeschaffenheit, der Seelenzustand, als dessen prägnanteste Ausprägung sie erscheint. Sofern aber die menschliche Gestalt durch Körperform und Züge des Antlitzes, zumal durch Stellung des Körpers und Gesichtsausdruck eine unmittelbare, durch sich selbst deutliche Vorstellung ethischer Beschaffenheit und psychologischer Vorgänge zu geben vermag, ist die bildende Kunst auch imstande den Eindruck, den die Dichtung durch die Erzählung der Handlung hervorbringt, unmittelbar zu erzeugen. Freilich darf sich der bildende Künstler der Freiheit bedienen, seinen Stoff als bekannt vorauszusetzen und auf die bereitwillig ergänzende Phantasie des Beschauers zu rechnen; das ändert aber an der Tatsache nichts, dass es in seiner Macht liegt, den eigentlichen Handlungsmoment selbst zu verkörpern. Ja! der echte Künstler verfährt gar nicht anders, auch wenn er, ohne den Anspruch eine dem Beschauer bekannte Handlung darzustellen, seine Gestalt in scheinbarer äußerer Ruhe verharrend bildet. Soll er einen lebendig wirkenden Eindruck hervorbringen, so muss auch seine Konzeption von jenem Lebendigsten des inneren, wirkenden Lebens ausgehen, dem taterzeugenden Willensakt. Statt aller Beispiele diene das eine: des Phidias olympischer Zeus, der mit den Gewährung winkenden Brauen den Olymp erschüttert.

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