Читать книгу "... es ist ein zu starker Contrast mit meinem Inneren!". Clara Schumann, Johannes Brahms und das moderne Musikleben онлайн

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Eine politische Rheinwanderung

Um sich über das, was Joseph Joachim ihm alles erzählt haben mag, noch weiter in die Welt und das Denken der Schumanns zu vertiefen, begab sich Brahms auf eine Wanderung, die ihn von Ende August bis Ende September 1853 von Mainz aus rheinabwärts bis Düsseldorf führte. Noch wusste er nicht, dass Clara dem längsten deutschen Strom ein Denkmal gesetzt hatte, indem sie für eine ihrer vier Heine-Vertonungen im Juni 1843 das Gedicht »Die Lorelei« gewählt hatte. Mit diesem Geschenk, das sie mit der Widmung »An meinen lieben Mann / zum 8. Juni 1843« versah, setzte sie der zwei Jahre zuvor entstandenen Liszt-Vertonung ihre Interpretation entgegen.

Bekannter war seinerzeit Robert Schumanns Umsetzung des sogenannten »Rheinlieds« des Bonners Nikolaus Becker, das er als »patriotisches Lied« schon wenige Monate nach Erscheinen des Textes als Beitrag für einen Wettbewerb einreichte. Ferner konnte Brahms nicht entgangen sein, dass im März 1851 mit Erfolg Robert Schumanns Rheinische Sinfonie in Düsseldorf uraufgeführt worden war. Das im November 1850 im Rheinland entstandene Werk war schon bald zu seinem Beinamen gekommen, weil es bereits in einer Besprechung in der Rheinischen Musik-Zeitung hieß, es »entrolle ein Stück rheinisches Leben«. Ein Tagebucheintrag von Clara zeigt, dass sie die Es-Dur-Sinfonie »auch für den Laien« als »sehr leicht zugänglich« erachtete, wobei ihr nur der vorletzte, der vierte Satz, der die Eindrücke eines Besuchs des Kölner Doms schildert, »am wenigsten klar« vorkam, da er zwar »äußerst kunstvoll« geraten war, man ihm indes »nicht so recht folgen« konnte.86 Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Joachim seinerzeit Brahms mit dieser aktuellen Sinfonie vertraut machte: Sie war 1851 vom Berliner Verleger Simrock veröffentlicht worden und überraschte mit bewusst verwendeten deutschen Tempobezeichnungen: »Lebhaft« (I), »Scherzo: Sehr mäßig« (II), »Nicht schnell« (III), »Feierlich« (IV) und »Lebhaft« (V) standen dort für die einzelnen Sätze statt der traditionell noch auf dem Programmzettel der ersten Aufführung verwendeten italienischen Angaben. Der ›Held‹ der Sinfonie war immerhin der bedeutendste deutsche Fluss. Tausende von Mitarbeitern waren gerade dabei, ihn um letztendlich fast 90 Kilometer zu verkürzen. Man nahm eine Begradigung vor, um eine gewisse Hochwassersicherheit zu erreichen sowie ihn schneller und auf eine längere Distanz schiffbar zu machen. Als das Orchesterwerk entstand, befand man sich gerade mitten in den Baumaßnahmen, die von 1817 bis 1876 dauerten. Parallel zu diesen Ereignissen gestaltete Robert Schumann eine Musik, die die Bürger bei ihren damaligen Projekten inspirieren konnte. Clara bewunderte, dass Robert schon immer viel Sinn für Symbolik besaß: So unterstützte er schon 1836 als Gründer und Herausgeber seiner in Leipzig erscheinenden Neuen Zeitschrift für Musik den Spendenaufruf für das Beethoven-Denkmal auf dem Bonner Münsterplatz; nicht zuletzt knüpfte die Rheinische Sinfonie mit fünf Sätzen auch an die Pastoral-Sinfonie des Rheinländers Beethoven an. Dieser Fluss war wesentlich für eine gemeinsame deutsche Identität: Schon seit dem 17. Jahrhundert gab es neuzeitliche Rhenus-Darstellungen und Skulpturen des ›Vater Rhein‹, der nicht zuletzt eine der wichtigsten Lebens- und Wirtschaftsadern im Lande wurde. Jede künstlerische Auseinandersetzung mit ihm stellte ein wichtiges Symbol für die Utopie eines vereinten Deutschlands dar, auf das zur Entstehungszeit der Sinfonie viele Menschen in den König- und Herzogtümern hofften. Johannes und Clara sollten 1871 die Staatsgründung noch erleben; Robert Schumann starb zuvor in der Fremde. Von wenigen kurzen Ausnahmen abgesehen, hatten die Schumanns ausschließlich in Sachsen gelebt, bevor sie ins Rheinland zogen. Dieses war nach dem Wiener Kongress in den größten Teilen des vormals französisch annektierten linken Rheinufers preußisch geworden. Viele Künstler hatten den Rheinmythos und damit oft indirekt die deutsche Einheit beschworen: Allen voran Clemens Brentano mit seinen von 1810 bis 1812 entstandenen vier Erzählungen Die Mährchen vom Rhein, die erst posthum 1846 veröffentlicht wurden, und Heinrich Heine mit seinem Versepos Deutschland – Ein Wintermärchen, das zwei Jahre zuvor herausgekommen war. »Franzosen und Russen gehört das Land, / Das Meer gehört den Britten, / Wir aber besitzen im Luftreich’ des Traums / Die Herrschaft unbestritten«, dichtete Heine und legte nahe, was die Menschen deutscher Zunge bisher nur in der Fantasie zuwege gebracht hatten: »Hier üben wir die Hegemonie, / Hier sind wir unzerstückelt; / Die andern Völker haben sich / Auf platter Erde entwickelt.«87

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