Читать книгу Die Tyrannei des Geldes. Henri-Frédéric Amiel über Besitz und Bürgertum онлайн

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Amiel notierte diese Überlegungen nach einer Diskussion mit Tante Julie. Julie Brandt, eigentlich eine Cousine seiner Mutter, war 17 Jahre älter als er und als Romantikerin aufgewachsen, mit Idealen, die Amiel eher einer Romanze des Biedermeier zuordnete als der Wirklichkeit. Julie lebte in einer Welt, in der sich das Glück noch in der ärmlichsten Hütte fand und wo mausarme Liebende Liedchen wie L’Amour avec l’eau claire trällerten. «Sie versteht nichts von den Bedürfnissen des heutigen Lebens, so als hätte sie wie Epimenides vierzig Jahre in einer Höhle verschlafen.» Was sollte er mit den Ratschlägen einer romantischen alten Jungfer anfangen? In ihrer Naivität rührten und ärgerten sie ihn zugleich.

Wo Tante Julie recht hatte: Der lettré, auch der Künstler, lebte in einer Welt des Geistes und bezog aus ihr seine Würde und seinen Trost. Aber wie lange hielten Würde und Trost vor für den Literaten in seiner Dachkammer, den Maler im zugigen Atelier? Auf die Dauer mussten beide an den Kleinlichkeiten des Alltags scheitern. «Die Bedürftigkeit», heisst es kurz später im Tagebuch, «ist letztlich noch schlimmer als die Einsamkeit, da sie unfehlbar das intellektuelle Leben abtötet.» Denn das geistige Leben, der Gestaltungsdrang des Künstlers gingen von der Prämisse aus, dass es keine Grenzen gab – für die Wissbegierde, für die Welt der Formen, Klänge und Farben. Wer aber täglich seine Francs und Centimes umdrehen musste, wurde auf Schritt und Tritt ans Limit erinnert, an Schranken und Beschränkung. «Geld zählen heisst eine Grenze ziehen», notiert Amiel, «heisst sie anerkennen, sich vor der Notwendigkeit beugen.» Nein, es gab nur eins für den Literaten, den Künstler: die materielle Absicherung durch einen bescheidenen Wohlstand, une aisance modeste, die kein Nachdenken über Geld mehr erheischte. Letztlich bedingten sich aisance und Freiheit gegenseitig, da mochte Tante Julie noch lange von ihrer Hütte mit dem Strohdach und den kaltes Wasser trinkenden Liebenden schwärmen. «Wenn man Einladungen ausschlagen muss, weil man sie nicht erwidern kann, wenn man sich in den Ferien nicht ein paar Wochen auf dem Land oder in den Bergen leisten kann wie alle anderen, wenn der Ehemann nicht mehr gelegentlich auf einer Reise seine Ideen auffrischen kann, da kann man nicht mehr von Wohlstand und Freiheit sprechen.»

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