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Marty blickte mich nachdenklich an. Klingt nachvollziehbar. Er stand auf, begann zwischen Tisch und Fenster hin und her zu gehen, blieb dann schließlich vor mir stehen. Gut, er werde also versuchen, mögliche, wahrscheinliche, wünschbare Vorstellungen zu entwerfen, wie das Leben seines Alter Ego in den vergangenen drei Monaten gewesen sein könnte. Aber er zweifle, ob man mit Wörtern das Vergessen zurückbuchstabieren könne. Trotz Lizenz zum Lügen. Sein Lächeln geriet ziemlich schief.

Das war am Sonntagabend, am folgenden Freitagmorgen brachte Marty die ersten Überarbeitungen seines Royan-Journals, oder, wie er zu sagen pflegte, der «Aufzeichnungen des Anderen», auf dem USB-Stick zum Ausdrucken ins Sekretariat und hinterließ die Mitteilung, dass er um ein zusätzliches Gespräch mit mir außerhalb der abgemachten Sitzungen bitte, so bald wie möglich.

Royan, Montag, 5. Mai 2003

Die Geschichte ist besser vorstellbar, wenn zuerst die Kulissen aufgestellt werden. Royan. Badeort mit kleinstädtischem Charakter an der französischen Westküste, genauer am nördlichen Ufer der Girondemündung gelegen, es ist nicht ganz klar, ob das Wasser bereits dem Atlantik oder noch der Gironde gehört, jedenfalls salzig, aber in der Ferne sieht man das gegenüberliegende Ufer. Achtzehntausend Einwohner und in der Badesaison über hunderttausend mehrheitlich französische Sommergäste. Vorzeigestadt für Fünfzigerjahre-Stadtarchitektur, fast in Reinkultur, fast museal. Architekturschulen studieren am Objekt die für den Wiederaufbau in den Fünfzigern entwickelte neue Architektursprache, royano-bré­silien. Eine Mischung von Bauhaus aus den Zwanzigern, Art déco aus den Dreißigern und dem brasilianischen Lyrismus eines Oscar Niemeyer aus den Vierzigern. Je­denfalls gewöhnungsbedürftig.

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