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DAS URTEIL

Der Durchbruch.

Entschlossen muss man am Hof des Königs die Sache be­kannt machen.

Der Wahrheit gemäß muss sie verkündet werden. Gefahr!

Man muss seine eigene Stadt benachrichtigen.

Nicht fördernd ist es, zu den Waffen zu greifen.

Fördernd ist es, etwas zu unternehmen.

Etwas unternehmen: Ich muss Helene schreiben, denkt der Mann, aber warum eigentlich schreiben? Helene ist ja hier, in diesem Haus. Eher muss ich mit ihr reden, es ihr erklären. Helene hat mit ihm zusammen studiert, sie war eine starke, unabhängige junge Frau, Tochter eines in Heidelberg stationierten amerikanischen Offiziers und einer Deutschen aus Dresden, die mit ihrer Mutter unmittelbar nach dem Krieg zu Verwandten nach Mannheim gezogen war (der Vater war an der russischen Front gestorben). Der Offizier hatte Helene nicht anerkannt und war in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt. Und so war sie bei ihrer Mutter und ihrer Großmutter in einer von Erniedrigung und Groll geprägten Atmosphäre aufgewachsen. Trotzdem oder auch gerade deswegen zog sie mit kaum achtzehn Jahren von zu Hause aus und entwickelte sich zu einer nicht nur im Studium, sondern auch in Bezug auf Freundschaften dynamischen, aktiven jungen Frau. Fasziniert von ihren väterlichen Wurzeln, schloss sie sich einer deutschen Beatnik-Gruppe an, die unter anderem von ihm, dem damals noch jungen Mann, angeführt wurde. Sie lernten sich kennen, verliebten sich, wollten, da sie beide aus Familien stammten, die der Krieg und die Nachkriegszeit beschädigt hatte, bald Kinder. Mit einem gewissen Abstand zu den ersten beiden Kindern, die geboren wurden, als das Paar noch herumreiste und kein festes Zuhause hatte, folgte – sie lebten inzwischen bereits seit einigen Jahren in einem Ort in der Nähe ihrer Studienstadt – ein Mädchen, das einen schweren Herzfehler hatte. Es wurde sofort operiert und ein paar Monate lang schien alles in Ordnung zu sein, das Kind wuchs, begann im Kinderwagen Kopf und Oberkörper zu heben, bis es eines Morgens im Schlaf zu atmen aufhörte. Von diesem Augenblick an war Helene in einen Mantel aus düsterer Schwermut gehüllt und wandte sich nie wieder dem Leben zu: «Der Schmerz einer Mutter ist grenzenlos, kennt weder Anfang noch Ende.» Die Leben­den hätten sie gebraucht, aber sie war anderswo. Und er? Sein erster Impuls war es gewesen, die Flucht zu ergreifen. Irgendwohin in die Ferne zu ziehen, sich dort niederzulassen und später die Kinder nachzuholen. Stattdessen war er gegangen und wieder zurückgekehrt. Sein Verantwortungsgefühl erlaubte ihm nicht, seinen Platz zu verlassen. Unzählige Male war er gegangen und wieder zurückgekehrt, aber verlassen hatte er die Familie nur für diese kurzen Zeitspannen – so kurz wie häufig und überlebenswichtig. Nun gut, ein paarmal war er ver­sucht gewesen, tatsächlich nicht mehr zurückzukehren, hatte ihn eine besonders prickelnde Liaison etwas länger in Anspruch genommen, aber jedes Mal breitete sich in ihm nach einer Weile wieder ein von jeglicher Sentimentalität freies, tiefes Mitleid aus und trieb ihn letztlich nach Hause.

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