Читать книгу Brief an meinen Vater онлайн
14 страница из 15
*
Der nahende Tod eines Menschen wühlt auf. Ich denke an die Bilanz, die deine Frau von ihrem Leben zieht, an die Fragen, die sie unbeantwortet lassen wird. Gemeinsam mit dir versuche ich, meinen eigenen Zweifeln auf den Grund zu gehen.
Ob man nun an Gott glaubt oder nicht, man fragt sich, woher die Kinder kommen. Die erste Erklärung, die ich von dir bekam: Wenn Mutter und Vater sich sehr lieben, schenkt Gott ihnen ein Kind. Meine Schwestern, mein Bruder und ich waren also Gottesgeschenke. Eine Erklärung, die so lange befriedigt, bis ein schlauerer Schulkamerad einem von dem kleinen Samen des Mannes erzählt, der in der Frau aufgeht. Du bist meinen Fragen zuvorgekommen. Da die Lehrer damals der Ansicht waren, sexuelle Erziehung gehöre nicht zu ihren Aufgaben, hast du das bei jedem «Schwung» neuer Katechumenen übernommen.
Mit vierzehn Jahren wurden Jungen und Mädchen von dir in allen Einzelheiten über Empfängnisverhütung, Periode, Wechseljahre, Geschlechtskrankheiten aufgeklärt. Der größte Verdienst des für junge Protestanten obligatorischen Konfirmandenunterrichts. Fast alle meine Klassenkameraden waren ebenso wenig von Religion überzeugt wie ich. Dafür aber hat dein Sexualkundeunterricht dir viel Achtung eingebracht. Die Konfirmanden kamen nach Hause und sagten: «Der Pfarrer hat uns alles erklärt.» Und wenn die Mutter fragte: «Was alles?», bekam sie zur Antwort: «Alles, sogar wie man ein Kondom überzieht.» Dass in unserem Dorf weniger Mädchen sehr jung schwanger wurden, verdanken wir, glaube ich, dir. Wenn ich an deine Aufklärungslektionen zurückdenke, bewundere ich noch heute deren anatomische Präzision.