Читать книгу Die illegale Pfarrerin. Das Leben von Greti Caprez-Roffler 1906 - 1994 онлайн
97 страница из 125
Chur,
Sommer 1924
An dieser jungen Frau ist alles weich: Nase, Kinn, Wangen, Unterarme und auch das helle Jerseykleid, das ihre Glieder umspielt. Die Sanftheit der Züge wirkt auf den ersten Blick kindlich, doch der konzentrierte Blick, der entschlossene Mund und das modische Kleid lassen einen anderen Schluss zu: Auf dem schmalen Geländer sitzt eine Jugendliche mit eigenem Geschmack und Willen, die, obschon sie in der Provinz lebt, die Modetendenzen der Welt verfolgt. Der industriell gefertigte Jerseystoff wird für Männerunterhosen verwendet, bis Coco Chanel in den 1920er-Jahren daraus schlichte, bequeme und dennoch elegante Frauenkleider nähen lässt: Ich mache Mode, in der Frauen leben, atmen, sich wohlfühlen und jünger aussehen können.352
Greti hat in ihr Fotoalbum lediglich die Initialen gesetzt: H. H. – Bei Rektors (Chur). Hildi Hügli ist die Freundin aus der Kantonsschule. Hildi, die Greti riet, ihre schönen Haare zu betonen und tanzen zu lernen. Ein Bild der Gastgeber hat Greti nicht eingeklebt. Rektor Paul Bühler und seine Frau haben Greti und Hildi eingeladen, womöglich, weil sie zu den wenigen Mädchen an der Schule gehören. Der Rektor hat drei Söhne und ein besonderes Faible für die Kultur der Antike und für klassische Schönheit.353 Es ist Sommer 1924, Hildi hat gerade die Matura bestanden.354 Ob sie sich für den Gastgeber so schön gemacht hat, für dessen Söhne – oder für ihre Begleiterin?