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Alberto Nessi
Miló
Erzählungen
Aus dem Italienischen von Maja Pflug
Limmat Verlag
Zürich
Erster TeilMiló
«Résistance n’est qu’espérance»
René Char
1
Vevey, 3. Februar 1934
Joséphine-Amérique eilt den windgepeitschten Genfersee entlang. An den Steinen am Ufer brechen sich die Wellen, das raue Rumoren der Brandung begleitet ihre Gedanken. Brandung, erbarmungsloses Gelächter: Die Arbeitslosigkeit ufert aus. Wie mag es dem armen Jungen im Gefängnis in Lausanne gehen? Wird er frieren? Er ist schon dreiundzwanzig, aber immer noch ihr Kind. Die Wellen überschlagen sich im Kopf der Frau, die gegen den Wind ankämpft. Sie hat die zwei wasserspeienden Steinlöwen am Brunnen der Place Orientale hinter sich gelassen, wo sie zwei Zimmer bewohnt. Allein, jetzt, da ihr Miló im Gefängnis sitzt.
Ihr Blick schweift zu den scharfen Zähnen der Berge hinter dem See, Drachenzähne, deren Schneespitzen tief hinunterreichen. Sie wird vom Wind gebeutelt und hat keine Augen für die himmeltanzenden Möwen über dem See. Sie hat nur Augen für Miló, bewacht von einem Wärter, der alles sieht. Er ist in einer Zelle eingesperrt, in der Festung Bois-Mermet, am Rand jener Stadt, die sie einmal auf dem Ausflug mit den Fabrikarbeiterinnen gesehen hat. Wie wird er das durchstehen, dieser lebenslustige Junge? Sie weiß noch, wie er mit der Schleuder in der Tasche die Gassen von Vevey unsicher machte, ihr kleiner David, der davon träumte, den in der alten Hausbibel abgebildeten Riesen Goliath zu Fall zu bringen. Was wird aus ihm werden? Was hat er nur im Blut, das ihn zur Rebellion drängt?