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Vom Heidi, seiner Reinheit und seinem Gebrauchswert

Heidi hat mir einen Vorgeschmack der Alpen und ihrer Reinheit gegeben, als ich kaum richtig lesen gelernt hatte, und da war ich etwa so alt wie der Geissenpeter, der seinerseits nicht lesen konnte, und die Alpen hatte ich damals noch nie gesehen. Das Buch war kartoniert, abgegriffen, die Illustrationen halfen der Phantasie, die durch das stockende Lesen eher angestachelt wurde, noch weiter auf den Sprung, so dass die Hügel, in welche meine ostschweizerische Vaterstadt eingebettet war, beim Lesen ins Unermessliche, Spitzige wuchsen und die kleine Schwester, die auf -i auslautete, aber leider, wie ich damals fand, nur Ursi und nicht Heidi hiess, durchaus bukolische Züge annahm. Ein Grossvater – Alpöhi! – war in der Familie leider nicht mehr vorrätig, aber die Grossmutter gab es noch, eine ausgesprochen gütige Person, die den Vergleich mit der Sesemannschen Grossmama nicht zu scheuen brauchte, so dass die reale Ahnfrau mit der geschilderten zu einem Inbild verschmolz. Die Grossmutter nannte man übrigens Grosi, so wie man den Taufpaten Götti nannte, während der Vater Vati hiess. Vati Grosi Götti Ursi Heidi – das Geschöpf der Johanna Spyri passte nahtlos in die Familie, zu der u.a. Chläusi, wie man den Schreibenden damals nannte, gehörte. Dieser begann denn auch bald, seine Schwester Ursi am Heidi zu messen, und obwohl die erstere mit ihren blonden Zapfenlocken einigermassen bezaubernd wirkte, fiel der Vergleich nicht zu ihren Gunsten aus, weil sie nämlich noch nie im Ausland gewesen war und ausserdem auch nichts von den Geissen und der Geissenmilch und dem Alpglühen zu erzählen wusste – in unserer Nachbarschaft gab es fast nur Schafe und Kühe. Wie dumm die Kühe doch waren, wie blöd die Schafe, verglichen mit den witzigen Ziegen (Schwänli & Bärli). Die unerlaubt brutalen, formlosen Kuhfladen, der unästhetische Schafdreck liessen bereits auf einen schlechten Charakter dieser Tiere schliessen, während die Geissen zierliche GEISSEBÖLLELI, wie man das im Dialekt nennt, hinterliessen, etwas Abgerundetes, fest Umgrenztes, sozusagen Schweizerisch-Sauberes, eine miniaturisierte Version der Rossbollen. Ursi muss schwer darunter gelitten haben, dass ich sie immer mit Heidi verglich, denn Heidi war damals realer und zugleich idealer als die leibhaftige Schwester, welche den Anforderungen, die der Bruder an sie stellte, nicht gewachsen war. Das wurde schon durch die Tatsache erhärtet, dass Ursi, obwohl vom Bruder mehrmals ermuntert, sich durchaus nicht dazu entschliessen konnte, als Nachtwandlerin das Haus zu verlassen, wie Heidi das mehrmals getan hat (in Frankfurt).

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