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Auch das Heimweh habe ich dank Johanna Spyri trainiert, bevor ich es erlebte, Heidis Heimweh, ebenfalls den Hass, Heidis Hass auf Fräulein Rottenmeier, die fürchterliche, die ich ohne Federlesen hätte umbringen können. So wurden die Gefühle eingeübt, bevor sie noch ein wirkliches Objekt hatten. Trockenschwimmkurse. Als das wirkliche Heimweh dann zum ersten Mal kam, in den Ferien beim Götti, konnte ich auf Heidis Heimweh nach den Alpen – die ich, wie gesagt, noch nie gesehen und nach denen ich also kein Heimweh haben konnte – zurückgreifen. Es hatte mir vorgeweint, und ich musste nur in seine Fussstäpfchen treten, schon ging es mir beträchtlich besser. Mit dem Hass hingegen war es schwieriger, ein derart tiefes Gefühl, wie es Fräulein Rottenmeier provozierte, eine so durch und durch giftige, hassenswerte Person war lange Zeit weder in der Familie noch sonst im Bekanntenkreis aufzutreiben, und so blieb denn der Hass bis weit über die Primarschulzeit hinaus ein freischwebender, freischaffender, ein durch und durch rottenmeierisch geprägter, der sich seinen Gegenstand erst suchen musste und ihn dann relativ spät im Lateinlehrer fand, oder vielleicht hat die frühe Heidi-Lektüre diesen Nachtmahr recht eigentlich erschaffen, vielleicht war er in Wirklichkeit nicht so schlimm, hatte nur einige gouvernantenhafte Züge mit Frl. Rottenmeier gemeinsam, und die restlichen habe ich ihm dann grosszügig angedichtet, um den Prototyp namens Rottenmeier endlich in der Wirklichkeit erleben zu dürfen. Er hat mir die negativen Gefühle alsbald reichlich zurückerstattet, und so waren denn Johanna Spyri schliesslich die miserablen Lateinnoten zu verdanken, und der Familienrat beschloss, mich in eine alpine Lateinschule zu stecken und aus dem Dunstkreis jenes Lehrers zu entfernen, und wurde der Schreibende dann – was er Heidi nicht alles verdankt! – im bündnerischen Internat zu Disentis, wo es damals noch massenhaft Geissen gab, eingeweckt. Dort hat er fünf Jahre in einer Landschaft, die in den fünfziger Jahren noch fast so unschuldig war wie jene von Maienfeld, also die Heidi-Urlandschaft, inmitten von Bergen und Benediktinern leben dürfen, die Luft war würzig, die Gräslein auch, der klösterliche Studentenfrass weniger, und der gregorianische Choral vermischte sich mit dem Geissenglöckleingebimmel. Aber vom anmutigen Mädchen (Dialekt: Maitli) – nicht die Spur. Das ideale Heidi hätte jetzt ein wenig älter sein müssen als jenes im Buch, und den Blick auf ein solches konnte man nur in der Maiandacht erhaschen. Es war eine reine Männergesellschaft. Jedweder Verkehr mit dem andern Geschlecht war untersagt; das Träumen nicht. Unsere zölibatäre Phantasie blühte mindestens so stark wie die von Johanna Spyri, welche die Traumfigur des Heidi als alleinstehende, verwitwete Matrone geschaffen hat.

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