Читать книгу Ein Bruder lebenslänglich. Vom Leben mit einem behinderten Geschwister онлайн

47 страница из 76

Neben dem einfach gehaltenen Kindergartenraum lagen zwei barocke Ballsäle, wo gelegentlich noch gesellschaftliche Anlässe abge­halten wurden. Diese Räume waren für uns tabu. Schwester Maria Leo beheimatete in dem einen Raum den Sankt Nikolaus und im andern das Christkind. So standen wir das ganze Jahr unter himmlischer Beobachtung. Immer wieder hörten wir Flügel rascheln und wetteiferten untereinander, wer wohl schnell einen Blick auf das vorbeihuschende Christkind erhaschen oder die tiefe Stimme von Sankt Nikolaus vernehmen konnte. Während des ganzen Jahres waren wir bemüht, uns viele goldene Einträge und möglichst wenige schwarze Striche in Nikolaus’ grossem Buch zu verschaffen.

Im Advent dann kamen die hehren Gestalten leibhaftig – Sankt Nikolaus, begleitet von einem Tross von Engeln – bei uns zu Besuch, und dann wurde abgerechnet. Sankt Nikolaus mit seinem weissen langen Bart war zwar ein milder Mann, der uns glaubwürdig mit feuchten Augen vorspielen konnte, wie traurig ihn unsere Misse­taten stimmten. Er war ein alter Freund meines Grossvaters, wie ich später erfuhr, und er war Sankt Nikolaus aus «Berufung». «Rutscht mir doch alle den Buckel runter», soll er seinen Kollegen einmal zugerufen haben, als sie ihn ärgerten, «in zwei Monaten bin ich wieder der Sankt Nikolaus und der glücklichste Mensch!»

Правообладателям