Читать книгу Ein Bruder lebenslänglich. Vom Leben mit einem behinderten Geschwister онлайн

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Die Grosse Tante betete vor, während sie sich weiter mit ihrer Näharbeit beschäftigte. Tante Fanny und ich sollten jeweils «abnehmen», das bedeutete, mit dem zweiten Teil des «Ave Maria» zu antworten. Weil Grosstante während des Arbeitens keinen Rosenkranz halten und die Perlen zählen konnte, behalf sie sich mit einem besonderen Zählsystem. Mit «erster Chor der Engel, zweiter Chor der Engel» usw. zählte sie sich bis zum zehnten Ave Maria durch, um dann mit dem «ganzen himmlischen Hofe» ins nächste «Gesätzchen» überzuwechseln. Ich musste still dasitzen; was für eine Qual für ein fünfjähriges Kind! So konzentrierte ich mich darauf, ob Grosstante richtig zählte. Wie war ich enttäuscht, wenn sie mehrmals das gleiche «Gesätzchen» wiederholte, ohne es zu merken, und wie freute ich mich, wenn sie einige Ave Marias übersprang. Auf diese Weise gestaltete ich mir das Beten etwas unterhaltsamer und lernte dabei erst noch zählen.

Eines Morgens stand die älteste Schwester von Martha mit verweinten Augen vor der Türe und sagte knapp: «Josefli ist gestorben.» Die Grosse Tante nähte schnell drei schwarze Ärmelschürzen für die Mädchen, welche diese zum Ärger der Grosstante später nur zum Teppichklopfen anzogen. Tante Fanny pflückte mit mir im Garten eine weisse Lilie. Dann gingen wir gemeinsam zum Kaminfegerhaus. Die älteste Schwester führte uns in ein Zimmer. Dort stand mittendrin ein kleiner weisser Sarg. Darin lag ein blasser Junge. Die Augen hatte er geschlossen. Es sah aus, als ob er schlafen würde. Ein Kranz von weissen Rosen lag auf seiner Brust. Ich sollte nun die weisse Lilie dazulegen, doch ich getraute mich nicht, näher zu treten, bis mir die Tante ungeduldig die Blume aus der Hand riss und selbst in den Sarg legte.

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