Читать книгу Ein Bruder lebenslänglich. Vom Leben mit einem behinderten Geschwister онлайн

39 страница из 76

Unheimlich war es, wenn nachts ein heftiges Gewitter tobte, der Wind durch den Kamin pfiff und schwarzes Pech aus der Feuertüre des grossen Ofens floss. Dann verbrannte die Grosse Tante Stechpalmen, welche sie zuvor am Palmsonntag in der Kirche hatte segnen lassen, um den Sturm zu besänftigen. Ich hörte einmal sagen, dass in solchen Nächten der Geist einer jungen Frau durch das Haus irre. Die Unglückliche soll sich vor vielen Jahren aus dem Fenster gestürzt haben.

In der Schneiderei

Die meiste Zeit hielt ich mich im Schneideratelier auf, wo die beiden Grosstanten mit ihren Näharbeiten beschäftigt waren. Es war eine Fundgrube an Spielmaterial: alte Stoffresten, leere Fadenspulen, Knöpfe und sonst allerlei, was in einem Schneideratelier als ­Abfall anfiel. Die Grosstanten liessen mich an ihrem Arbeitstisch spielen. Ich schaute ihnen bei ihrer Arbeit zu und kopierte ihre grossen weissen Stiche für meine Näharbeiten. «Z’fadeschloh» nannten sie dies. Ich wusste nicht, dass diese grossen Stiche nur Heftnähte waren, die man nach Fertigstellung der Naht wieder auftrennen musste. Doch die Grosse Tante spendete mir Lob für meine Arbeit: «Aus dir wird sicher einmal etwas!» Obwohl sie sonst kaum Lob verteilte, war es ihr wichtig, mir das zu sagen. Ihre Patin, bei der sie nach dem Tod der Mutter für einige Zeit wohnen musste, hätte ihr immer gesagt, dass aus ihr nichts werden würde. Als die Grosse Tante dann ihre Ausbildung zur Schneiderin abgeschlossen hatte, war der lapidare Kommentar der Patin: «Ich hätte nie gedacht, dass aus dir einmal etwas wird.»

Правообладателям